Franz Taut

Ohne Panzer Ohne Straßen


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gewaltigen Feuerschlag den Angriff eröffnen sollte, sofern nicht Gegenorder käme.

      »Gegenorder?«, fragte Hohberg den Chef. »Kann sich denn da noch etwas ändern?«

      Hauptmann Kern schüttelte den Kopf. »Nicht so, wie Sie vielleicht meinen, Hohberg. Der Angriff ist befohlen. Aber man hält es für möglich, dass drüben nichts liegt. Jedenfalls nicht in Grenznähe. Leutnant Heise ist mit dem Funker vorn bei den Sturmpionieren. Von ihm werden wir aus erster Hand erfahren, wie es aussieht.«

      Hohberg meldete sich ab. Sein Fahrer, der Gefreite Anschütz, wartete beim Wagen. Er hatte bisher Oberleutnant Richert gefahren, der sich seit Anfang Juni auf einem Lehrgang in Frankreich befand.

      »Wie schaut’s denn bei den Russen aus?«, fragte er den Leutnant, der erst seit ein paar Stunden die neuen Schulterstücke trug.

      »Alles ruhig, nichts zu sehen«, antwortete Hohberg. War diese völlige Stille auf der anderen Seite der Grenze nicht sonderbar?

      Der Gefreite Anschütz schien es von einem anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. »Um so besser«, meinte er, »wenn die Russen nichts haben, kann der ganze Rummel ja nicht lange dauern.«

      Hohberg widersprach nicht. Es würde sich zeigen. Immerhin schien festzustehen, dass es drüben keinen Aufmarsch gab. Hatte der Chef nicht die Möglichkeit angedeutet, dass die Grenze überhaupt nicht besetzt war? Demnach war der eigene Angriff ein Überfall auf einen nichtsahnenden Gegner. Aber hatte es sich am 1. September 1939 gegen Polen anders abgespielt? Eine regelrechte Kriegserklärung war auch da nicht vorhergegangen.

      Sie fuhren zurück. Als sie die Feuerstellung erreichten, war es dunkel geworden. Die Kanoniere kauerten bei den Geschützen und unterhielten sich mit leisem Gemurmel, als fürchteten sie, ein lautes Wort könnte dem Feind ihre Anwesenheit verraten – dem Feind, der zu dieser Stunde nicht ahnte, was frühmorgens um drei Uhr fünfzehn über ihn hereinbrechen würde.

      An Schlaf dachte niemand in dieser Nacht. Unerträglich empfand man die Stille, die höchstens von flüchtigem Geraschel oder vom Ruf eines Nachtvogels unterbrochen wurde.

      Um Mitternacht klingelte schrill der Fernsprecher. Hohberg nahm ab. Von der B-Stelle, zu der vom Nachrichtenzug eine Leitung gelegt worden war, kamen die Werte für den ersten Feuerbefehl durch. Also doch keine Gegenorder.

      Die Zeiger der Uhr rückten vor. Der 22. Juni 1941 war angebrochen.

      Um zwei Uhr rief der Chef erneut an.

      »Drüben ist alles unverändert«, sagte er. »Kann noch nicht sagen, ob sich ›Weinrebe‹ erübrigt.«

      »Weinrebe« war der Tarncode für den beabsichtigten Feuerschlag, mit dem die Artillerie den Sturmpionieren und der Infanterie den Sprung durchs Niemandsland erleichtern sollte.

      Alle warteten, aufs Äußerste gespannt. Im Osten breitete sich ein Schimmer fahler Helligkeit am Himmel aus. Flackernd verblassten die Sterne. Die Stille, die über dem Grenzgebiet lag, war so vollkommen, als hielte sogar die Natur den Atem an. Kein Lufthauch regte sich. Farblos dehnte sich das wellige Land mit seinen Wiesen und schattendunklen Wäldern im ungewissen, sacht sich aufhellenden Schein der Dämmerung.

      Zwei Uhr dreißig. Vom Tross brachten Essensträger kalte Verpflegung und heißen Kaffee. Es war echter Bohnenkaffee, vom »Spieß« seit Frankreich für besondere Gelegenheiten gehortet. Eine solche Gelegenheit war dieser Morgen, an dem der Feldzug gegen Russland beginnen sollte.

      Mit schräg nach oben gerichteten Rohren standen die vier Geschütze der Batterie bereit. Die Erdsporen mit ihren scharfen Schneiden, die tief in den Boden gerammt waren, sicherten die gespreizten Holme gegen die Wucht des Rückstoßes. Hinter jedem Geschütz waren Granaten in ihren Körben aufgeschichtet. Daneben stapelten sich die Kartuschkästen. Die Kanoniere tappten unruhig umher. Kein Wort wurde gesprochen, als schnüre die Erregung allen die Kehle zu.

      Drei Uhr. Der Funker hockte vor seinem Gerät, die Kopfhörer aufgestülpt. Der Fernsprecher hielt die Hand griffbereit über dem Feldtelefon.

      Unbemerkt war es auf einmal Tag geworden. Fast schmerzhaft war die immer noch anhaltende Stille. Alle lauschten gespannt. Nichts regte sich. Der Feind schien zu schlafen. Der Feind! Tags zuvor zur gleichen Stunde hatte noch niemand daran gedacht, die Russen Feinde zu nennen.

      Drei Uhr zehn. Kein Gegenbefehl war gekommen. Fast erleichtert rief Leutnant Hohberg mit vollem Stimmaufwand, ohne vom Megafon, der Flüstertüte, Gebrauch zu machen: »Ganze Batterie! Vierte Ladung Aufschlag …« Es folgten die Werte für die Zieleinrichtung und die Rohrerhöhung. Und dann: »Feuerbereitschaft melden!«

      Die Geschützführer beorderten die Kanoniere und Munitionskanoniere an ihre Plätze und riefen fast gleichzeitig Wachtmeister Binder die Meldung zu.

      Gelassen trat Binder vor Leutnant Hohberg.

      »Batterie feuerbereit.«

      Hohberg blickte auf seine Uhr. Jetzt hob er das Megafon.

      »Batterie Feuer!«

      Sekunden später brüllte der Donner der Abschüsse auf. Auch zur Linken und zur Rechten hallte es krachend wie überlautes Echo.

      Das Feldtelefon schrillte, während fern die Detonationen der Granateinschläge rumpelten. Der Gefreite mit dem gelben Blitz am Ärmel riss den Handapparat hoch. Dann rief er: »Befehl von B-Stelle: Feuer einstellen! Fertig machen zum Stellungswechsel!«

      Vorn, im Niemandsland, erhoben sich die Sturmpioniere aus dem taunassen Gras. Während sich der Pulverqualm des kurzen Feuerschlages verflüchtigte, schlichen sie geduckt zum Drahthindernis, durchschnitten mit ihren Scheren den Stacheldraht und huschten weiter, jetzt schon in Feindesland. Leutnant Heise und der Funker, der das Tornistergerät trug, begleiteten die erste Welle.

      Aus einem Wäldchen und einem in einer Mulde halb versteckten Dorf peitschten vereinzelte Schüsse.

      Nun trat auch die Infanterie auf der ganzen Front zum Angriff an. Keilförmig folgten die Kompanien den zügig vorgehenden Sturmpionieren.

      Das Abwehrfeuer verstärkte sich. Aber es waren ungezielte, wie in höchster Verwirrung abgegebene Schüsse. Zu sehen jedoch war niemand.

      Ohne auf Widerstand zu treffen, drangen die Pioniere in das kleine Dorf ein. Die Häuser waren verlassen. Offenbar hatte die russische Besatzung, wie drüben die deutsche, die polnischen Bewohner aus den grenznahen Dörfern vertrieben.

      Aus einem einzeln stehenden Haus fielen plötzlich Schüsse. Pioniere umstellten es. Eine Handgranate flog durch ein geöffnetes Fenster. Die laut krachende Explosion riss ein Loch in die Hauswand. Die Tür sprang aus den Angeln. Durch Schwaden von Rauch und Qualm taumelten drei Gestalten in dunklen Uniformen mit erhobenen Händen ins Freie.

      »Nix Soldat – nix Soldat!«, rief einer, der aus einer Kopfwunde blutete. Anscheinend waren es Grenzwächter, wie auch auf der deutschen Seite Zollbeamte die Grenze bewacht hatten. Wo aber war die Rote Armee? Weit im Osten schien sie sich allerdings zum Kampf zu stellen, denn dort steigerte sich das anhaltende Artilleriefeuer zu wütendem Trommeln.

      Während der Funker, der den Artillerieleutnant Heise begleitete, bei einem vorsintflutlichen Ziehbrunnen sein Gerät aufbaute, kam ein Melder ins Dorf. Die Pioniere wurden angehalten. Sie sollten der Infanterie, die jetzt nachrückte, folgen und später, wenn die weiter landein vermutete Befestigungslinie erreicht war, die Bunkerbekämpfung übernehmen.

      Durch Funk gab Heise dem Batteriechef einen Überblick. Unerklärlich war die bisherige Lage. Auf feindliche Kampftruppen war man bisher nicht gestoßen. Nicht einmal als Geplänkel konnte man das bezeichnen, was sich einstweilen in Grenznähe abgespielt hatte.

      Von Hauptmann Kern erhielt Heise den Befehl, sich nunmehr als vorgeschobener Beobachter der Infanterie anzuschließen.

      Die Kompanie, die die Sturmpioniere abgelöst hatte, sammelte sich am Ausgang des verlassenen Dorfes. Leutnant Heise meldete sich beim Kompaniechef, einem jungen Hauptmann, der wie er das EK I und das silberne Verwundetenabzeichen trug.

      »Na, dann wollen wir