Charles Dickens

Eine Geschichte von zwei Städten


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über die Tür hin, ehe er diesen derb in das Schloß stieß und so geräuschvoll wie nur möglich darin umdrehte.

      Die Tür ging unter seiner Hand langsam nach innen auf. Er sah hinein und sagte etwas. Eine schwache Stimme antwortete darauf. Es konnte beiderseits wenig mehr als eine Silbe gesprochen worden sein.

      Monsieur Defarge schaute über die Schulter zurück und winkte seinen Begleitern, einzutreten. Mr. Lorry schlang seinen Arm um den Leib seiner Begleiterin und hielt sie fest; denn er fühlte, daß sie ohnmächtig werden wollte.

      »Ein – ein – ein Geschäft, Geschäft!« drängte er, und auf seiner Wange zeigte sich ein Naß, das jedenfalls dort kein Geschäft hatte. »Kommt mit – kommt!«

      »Ich fürchte mich«, entgegnete das Mädchen schaudernd.

      »Vor was?«

      »Vor ihm – vor meinem Vater.«

      Durch Miß Manettes Zustand und das Winken des Führers in Verzweiflung gebracht, schlang er den Arm, der auf seiner Schulter zitterte, um seinen Hals, hob sie ein wenig empor und eilte mit ihr in das Gemach; dann setzte er sie unmittelbar hinter der Schwelle wieder ab, ohne die sich an ihn Anklammernde loszulassen.

      Defarge nahm den Schlüssel wieder heraus, machte die Tür zu und schloß sie von innen ab, dann zog er den Schlüssel ab und behielt ihn in der Hand. Alles dies tat er methodisch und so geräuschvoll wie nur möglich. Endlich ging er gemessenen Schritts durch die Kammer nach dem Fenster hin, wo er haltmachte und sich umwandte.

      Die Dachkammer hatte ursprünglich die Bestimmung, zur Aufbewahrung von Brennholz und dergleichen zu dienen, und bestand in einem düstern, dunklen Gelaß. Das Fenster im Dach war eigentlich eine Tür mit einem kleinen Kran darüber, um von der Straße aus Vorräte in die Höhe ziehen zu können, hatte keine Scheiben und bestand wie jede andere Tür von französischer Konstruktion aus zwei Flügeln. Um die Kälte abzuwehren, war der eine Flügel fest geschlossen und der andere nur ein wenig geöffnet; durch den schmalen Spalt aber drang das Licht nur so spärlich ein, daß man unmittelbar nach dem Eintreten nichts sehen konnte, und nur lange Gewohnheit vermochte irgend jemand in die Lage zu bringen, bei solcher Beleuchtung eine Arbeit vorzunehmen. Und doch wurde in diesem Dachraume gearbeitet. Den Rücken der Tür und das Gesicht dem Fenster zugewandt, vor dem der Wirt zusehend stand, saß ein weißhaariger Mann auf einer niedrigen Bank. Er hatte den Körper vorwärts gebeugt und machte eifrig Schuhe.

      *

      »Guten Tag!« sagte Monsieur Defarge, auf den über einen Schuh hingebeugten weißen Kopf niederblickend.

      Der Kopf richtete sich für einen Augenblick auf, und eine sehr schwache Stimme, als komme sie aus weiter Ferne, antwortete auf den Gruß:

      »Guten Tag!«

      »Ich sehe, Ihr seid eifrig beim Geschäft?«

      Nach einer langen Pause erhob sich der weiße Kopf abermals, und die Stimme versetzte:

      »Ja – ich arbeite.«

      Diesmal hatten auch ein Paar hohle Augen den Frager angeblickt, ehe sich das Gesicht wieder senkte.

      Die Schwäche der Stimme war erschütternd mitleiderregend. Man konnte sie keine körperliche Schwäche nennen, obschon langer Kerker und schlechte Kost ohne Zweifel mit zu den Ursachen gehörten. Ihre bejammernswürdige Eigentümlichkeit bestand in dem Umstand, daß sie eine Frucht der Einsamkeit und des völligen Mangels an Übung war. Die Stimme klang wie das letzte matte Echo eines lange zuvor ins Weite gerufenen Tons und hatte das Leben, den Klang der menschlichen Stimme so ganz und gar verloren, daß sie auf die Sinne den Eindruck einer Farbe machte, die einmal schön war, jetzt aber zu einem matten Fleck verblichen ist. Sie klang so gedämpft und verfallen, daß sie unter dem Boden hervorzukommen schien, und deutete so ausdrucksvoll auf ein hoffnungsloses, verlorenes Wesens, daß der Ton den Hörenden unwillkürlich an einen in der Wüste verirrten, verhungernden Reisenden erinnerte, der der Heimat und seinen Freunden noch ein Lebewohl zuruft, ehe er sich hinlegt, um zu sterben.

      Einige Minuten stummer Arbeit waren vergangen, und die hohlen Augen hatten wieder aufgeblickt – nicht etwa aus Interesse oder Neugier, sondern vorläufig nur unter dem mechanischen Eindruck, daß die Stelle, wo der einzige zu ihrer Wahrnehmung gekommene Besuch stand, noch nicht leer sei.

      »Ich möchte etwas mehr Licht einlassen«, sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schuhmacher verwandt hatte. »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helle vertragen?«

      Der Schuhmacher hielt in seiner Arbeit inne, schaute mit einer ausdruckslosen Miene des Horchens bald rechts, bald links von sich auf den Boden und sah endlich zu dem Sprecher auf.

      »Was habt Ihr gesagt?«

      »Ob Ihr mehr Helle vertragen könnet?«

      »Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«

      Er legte einen blassen Schatten von Nachdruck auf das zweite Wort.

      Die angelehnte Halbtür wurde ein wenig weiter geöffnet und vorderhand unter diesem Winkel befestigt. Ein breiter Lichtstreifen fiel in die Kammer und beleuchtete den ruhenden Arbeiter mit einem unvollendeten Schuh auf seinem Schoß. Sein Werkzeug und einige Stücke Leder lagen zu seinen Füßen und auf der Bank. Er hatte einen weißen, struppigen, aber nicht sehr langen Bart, ein hageres Gesicht und ungemein helle Augen. Letztere hätten in den tiefen Höhlen, dem welken Zug unter den noch immer dunkeln Augenbrauen und unter dem weißen Haar groß erscheinen müssen, wenn sie auch das Gegenteil gewesen wären. Bei ihrer natürlichen Größe aber hatten sie ein wahrhaft unheimliches Aussehen gewonnen. Das zerfetzte gelbe Hemd ließ die Brust offen und zeigte einen völlig maroden Körper. Er, sein altes Kanevaswams, seine losen Strümpfe und die übrigen Kleiderlumpen waren in der langen Abgeschiedenheit von Licht und Luft zu einem so gleichförmigen Pergamentgelb verblichen, daß man kaum einen Unterschied mehr entdecken konnte.

      Er hatte seine Hand zwischen seine Augen und das Licht gebracht, und sogar die Knochen schienen durchsichtig zu sein. So saß er mit leerem Blicke da und ließ seine Arbeit ruhen. Er schaute nie auf die Gestalt vor ihm, ohne vorher rechts und links an sich niederzusehen, als habe er die Gewohnheit verlernt, den Ton mit einem Ort in Verbindung zu bringen: auch sprach er nie, ohne sich zuvor in dieser unsteten Weise zu ergehen, die ihn gelegentlich auch das Reden ganz und gar vergessen ließ.

      »Werdet Ihr wohl heute noch dieses Paar Schuhe fertigbringen?« fragte Defarge, indem er Mr. Lorry winkte, näher zu treten.

      »Was habt Ihr gesagt?«

      »Ob Ihr Eure Schuhe heute noch fertigzubringen gedenkt.«

      »Ich kann nicht sagen, ob ich's imstande bin. Vermutlich. Ich weiß es nicht.«

      Die Frage erinnerte ihn jedoch an seine Arbeit, und er beugte sich wieder darüber hin.

      Mr. Lorry trat schweigend vor und ließ die Tochter an der Tür zurück. Er mochte ein paar Minuten neben Defarge gestanden haben, als der Schuhmacher wieder aufschaute. Dieser zeigte kein Erstaunen über das Vorhandensein einer weiteren Person; aber die unsteten Finger seiner einen Hand verirrten sich, während er so aufblickte, zu seinen Lippen, die mit den Nägeln die blasse Bleifarbe teilten. Dann ließ er die Hand wieder auf seine Arbeit sinken und beugte sich abermals über den Schuh. Das Aufsehen und die Gebärde hatte nur einen Augenblick gedauert.

      »Ihr seht, Ihr habt einen Besuch«, sagte Monsieur Defarge.

      »Was habt Ihr gesagt?«

      »Hier ist ein Besuch.«

      Der Schuhmacher schaute wieder wie zuvor auf, ohne jedoch die Hand von seiner Arbeit zu entfernen.

      »Gebt her«, sagte Defarge, »Hier ist ein Herr, ein Kenner von guten Schuhen, wenn er welche sieht. Zeigt ihm die Arbeit, die Ihr vor Euch habt. Nehmt, Monsieur.«

      Mr. Lorry nahm den Schuh in seine Hand.

      »Sagt dem Herrn, was für ein Schuh dies ist und wer ihn gemacht hat.«