Charles Dickens

Eine Geschichte von zwei Städten


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versuchte mir verständlich zu machen, wie der Streit entstanden war, und sagte, soweit er die Sache beurteilen könne, habe England dabei unrecht und töricht gehandelt. Auch fügte er scherzend bei, daß vielleicht Georg Washington in der Geschichte einen fast ebenso großen Namen erringen werde wie Georg der Dritte. In dieser Äußerung lag jedoch nichts Verfängliches; er hatte sie lachend getan, und man sprach eben, um sich die Zeit zu vertreiben.«

      Jeder starkmarkierte Gesichtsausdruck einer Hauptperson in einer hochinteressanten Szene, auf der viele Augen haften, wird unbewußt von den Zuschauern nachgeahmt. Als sie dieses Zeugnis ablegte, zeigte sich ein Zug schmerzlicher Angst und Spannung auf ihrer Stirn, und während der Pausen, die durch das Aufzeichnen ihrer Angaben durch den Richter veranlaßt wurden, suchte sie die Wirkung derselben in den Gesichtern der Advokaten für und wider den Angeklagten zu lesen. Wo man nun in dem Gerichtssaal hinsehen mochte, begegnete man bei den Zuschauern demselben Ausdruck, und zwar in einem so hohen Grade, daß die große Mehrheit der Stirnen nur Spiegel der Stirn der Zeugin zu sein schienen, als der Richter von seinem Notizblatte aufschaute, um bei der schrecklichen Ketzerei über Georg Washington grimmig umherzublicken.

      Der Herr Staatsanwalt bedeutete jetzt dem Lord Oberrichter, daß es aus formellen Rücksichten und vorsichtshalber notwendig sein dürfte, auch den Vater der jungen Dame, den Doktor Manette, zu vernehmen. Er wurde aufgerufen.

      »Doktor Manette, betrachtet den Gefangenen. Habt Ihr ihn schon einmal gesehen?«

      »Ja, einmal. Er besuchte mich in London. Dies mag vor drei oder vierthalb Jahren geschehen sein.«

      »Erkennt Ihr in ihm einen Mitreisenden an Bord des Paketschiffes, oder wißt Ihr etwas von seiner Unterhaltung mit Eurer Tochter?

      »Weder das eine noch das andere, Sir.«

      »Warum dies? War vielleicht ein besonderer Grund dafür vorhanden?«

      »Ja«, lautete die leise Antwort.

      »Ihr habt in Eurem Vaterland das Unglück gehabt, ohne Urteilspruch, ja, sogar ohne Anklage eine lange Gefangenschaft durchmachen zu müssen, Doktor Manette?«

      Er entgegnete in einem Ton, der jedem zu Herzen ging:

      »Eine lange Gefangenschaft.«

      »Ihr waret nur kurz vor dem fraglichen Anlaß in Freiheit gesetzt worden?«

      »So sagt man mir.«

      »Ihr erinnert Euch dessen nicht selbst?«

      »Nein. In meinem Geist ist eine Lücke – ich weiß nicht, von welcher Dauer – von der Zeit an, als ich in meiner Gefangenschaft mich mit Schuhmachen beschäftigte, bis zu dem Augenblick, in dem ich mich hier zu London unter der pflegenden Hand meiner Tochter wiederfand. Ich hatte mich bereits an sie gewöhnt, als es dem Allbarmherzigen gefiel, mir mein geistiges Vermögen zurückzugeben, obschon ich nicht sagen kann, wie dies zugegangen war. Der ganze Vorgang meines früheren Verkehrs mit ihr ist in Nacht gehüllt.«

      Der Herr Staatsanwalt setzte sich nieder, und der Vater und die Tochter folgten seinem Beispiele.

      Nun ergab sich in der Verhandlung ein eigentümlicher Umstand. Das Beweisobjekt war, darzutun, daß der Gefangene mit einem noch nicht ermittelten Genossen vor fünf Jahren in jener Novembernacht den Postwagen benutzt habe und unterwegs zum Schein an einem Orte ausgestiegen sei, an dem er nicht blieb, sondern von wo aus er um fünf oder sechs Wegstunden nach einem Garnison- und Werftenplatze zurückreiste, um daselbst sich auf Spionage zu legen. Ein Zeuge wurde vernommen, der in ihm die Person erkennen wollte, die er genau um jene Zeit in dem Kaffeezimmer eines Gasthauses jener Garnison- und Werftenstadt in Erwartung eines anderen gesehen hatte. Der Verteidiger nahm diesen Zeugen scharf ins Verhör, konnte aber nichts weiter aus ihm herausbringen, als daß der Gefangene ihm von keiner andern Gelegenheit her bekannt sei. Jetzt beschrieb der beperückte Gentleman, der der Saaldecke ein so großes Interesse abgewann, einige Worte auf ein Stückchen Papier, rollte es zusammen und warf es dem Anwalt des Gefangenen zu. Dieser benutzte die nächste Pause, um das Röllchen zu öffnen und betrachtete darauf den Angeklagten mit großer Aufmerksamkeit.

      »Ihr behauptet also wiederholt, Ihr wisset gewiß, daß es der Gefangene gewesen sei?«

      Der Zeuge wußte es gewiß.

      »Habt Ihr nie jemand gesehen, der Ähnlichkeit mit dem Gefangenen hatte?«

      Wenigstens keine so große Ähnlichkeit, daß sie ihn hätte tauschen können, meinte der Zeuge.

      »So betrachtet Euch einmal diesen Gentleman, meinen gelehrten Freund«, er deutete auf den Herrn, der ihm das Papier« zugeworfen hatte – »und dann den Gefangenen. Was sagt Ihr jetzt? Sind sie einander nicht sehr ähnlich?«

      Abgesehen von dem Umstand, daß der gelehrte Freund eine ziemlich vernachlässigte, wo nicht liederliche Außenseite hatte, fand zuverlässig eine so große Ähnlichkeit statt, daß sie nicht nur den Zeugen stutzig machte, sondern auch allen Anwesenden auffiel. An den Lord Oberrichter erging nun das Ersuchen, er möchte dem gelehrten Freund befehlen, seine Perücke abzunehmen, was dann auch von seiten Seiner Gnaden, obschon in sehr ungnädiger Weise, geschah, und die Ähnlichkeit trat jetzt um so schlagender hervor. Der Lord Oberrichter fragte Mr. Stryver, den Verteidiger, ob sie etwa zunächst dem Mr. Carton (Name des gelehrten Freundes) wegen Hochverrats den Prozeß machen sollten; doch Mr. Stryver antwortete darauf dem gnädigen Herrn mit Nein: er beabsichtige bloß, den Zeugen zu fragen, ob ihm, was ihm einmal zugestoßen, nicht auch zum zweiten Male habe begegnen können – ob er so zuversichtlich aufgetreten wäre, wenn man diesen Beweis von Übereilung ihm früher vor Augen gestellt hätte, und so weiter. Die Folge davon war, daß diese Zeugenaussage wie ein irdener Topf zerschmettert und der Zeuge selbst, sofern er zu dem Prozeß in Beziehung kam, zu dem nutzlosen Gerümpel gestellt wurde.

      Mr. Cruncher hatte in seiner Aufmerksamkeit für die Verhandlung ein ganzes Frühstück Rost aus seinen Fingern gesogen. Er verwandte kein Auge von Mr. Stryver, während dieser den Sachverhalt im Interesse des Gefangenen vor den Geschworenen wie einen vollständigen Anzug zurechtlegte. Er zeigte ihnen, daß der Patriot Barsad ein gedungener Spion und Verräter, ein keckstirniger Verkäufer von Blut und einer der größten Schurken sei, die je auf Erden umhergewandelt seien seit dem fluchwürdigen Judas, dem er sicherlich auch gleichsehe. Der tugendhafte Diener Cly sei sein Freund und ein seiner würdiger Gehilfe: diese beiden Fälscher, und meineidigen Wichte hätten sich den Gefangenen als ihr Opfer ausersehen, weil dieser, ein Mann von französischer Abkunft, in Familienangelegenheiten, die seine Anwesenheit jenseits des Kanals nötig machten, öfters Frankreich besuchte. Von diesen Angelegenheiten könne aus Rücksicht für andere, die ihm nahe und teuer seien, und wenn das Leben des Gefangenen davon abhänge, kein öffentlicher Gebrauch gemacht werden. Das Zeugnis, das man der jungen Dame abgerungen, von deren Kummer über diesen Zwang man sich habe überzeugen können, enthalte nichts als unschuldige Galanterien und Höflichkeitsbezeigungen, wie sie zwischen jungen Personen verschiedenen Geschlechts bei zufälliger Begegnung häufig vorkämen: nur die Hinweisung auf Georg Washington mache davon eine Ausnahme, aber der Inhalt jener Rede sei zu überspannt und unmöglich, als daß sie in einem andern Licht denn in dem eines ungereimten Scherzes aufgefaßt werden könne. Es wäre ein Makel für die Regierung, wenn sie in diesem Versuch, durch eine Einwirkung auf die niedrigsten nationalen Gehässigkeiten und Besorgnisse sich populär zu machen, unterläge, und deshalb habe der Herr Staatsanwalt den Fall möglichst schreiend darzustellen gesucht: gleichwohl liege gar nichts vor als die Aussagen feiler, ehrloser Zeugen, wie man sie in Prozessen ähnlicher Art zur Schande des Landes nur zu oft finde. Doch jetzt legte sich der gnädige Herr Oberrichter mit einer so gravitätischen Miene, als habe der Verteidiger mit der Hinweisung auf die englischen Staatsprozesse eine Unwahrheit gesprochen, ins Mittel und erklärte, er könne, solange er auf der Gerichtsbank sitze, solche Anspielungen nicht dulden.

      Mr. Stryver rief nun seine wenigen Zeugen auf, und dann hatte Mr. Crunchers Aufmerksamkeit dem Herrn Staatsanwalt zu folgen, wie dieser an dem Anzug, den Mr. Stryver für die Geschworenen zurechtgelegt hatte, das Innere nach außen kehrte und dabei zeigte, daß Barsad und Cly hundertmal besser seien, als sie seiner Meinung nach gewesen, der Gefangene aber hundertmal schlechter. Zum Schlusse