Hans Poerschke

Das Prinzip der Parteiliteratur


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Argumente wurden endlos wiederholt, dem Stil seiner Polemik wurde nachgeeifert. In der offiziellen Geschichtsschreibung der KPdSU, insbesondere in Stalins Kurzem Lehrgang, wurden die politischen Vorstellungen der Menschewiki als derart notorisch schädlich, feindlich, unhaltbar, ja, dumm gebrandmarkt, dass man sich nur wundern kann, warum sie jemals Anhänger um sich scharen konnten. Für Kunizyn, den sowjetischen Autor eines lange Zeit als Standardwerk geltenden Buchs über Lenins Auffassung von Parteilichkeit der Presse und Pressefreiheit, waren sie Leute, die nicht von der Angewohnheit lassen können, »hier wie dort« zu publizieren, die Individualismus und Anarchismus ins Parteileben hineintragen und die das Recht beanspruchen, ihre subjektiven Ansichten gemäß einer Laune, aus dem Wunsch, mit dem Publikum zu kokettieren oder im Streben nach billiger Popularität zu vertreten.18 Auch wir haben den Menschewiki pauschal Opportunismus in der Organisationsfrage in Gestalt einer »anarchistischen, individualistischen Konzeption« unterstellt.19 Zur pauschalen politischen und moralischen Diskreditierung kommt hinzu, dass überwiegend bewusst und sorgfältig vermieden wurde, auf den konkreten Inhalt des Streits zwischen Bolschewiki und Menschewiki detailliert einzugehen, dass insgesamt die Gedankengänge der Kontrahenten Lenins aus dem wissenschaftlichen Diskurs und aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis verdrängt wurden. Was haben sie denn tatsächlich gesagt? Welches waren ihre Argumente in der Auseinandersetzung mit Lenins Organisationskonzept und der Art und Weise seiner Durchsetzung? Welche anderen Vorstellungen haben sie vertreten? Wir können die Probleme, um deren Lösung es damals ging, und wir können die reale Bedeutung, die Lenins Konzept für die Entwicklung der Partei und ihrer Presse haben konnte, nicht erfassen, ohne uns mit dem Standpunkt der Menschewiki vertraut zu machen, die sich der Situation unter einem anderen Blickwinkel näherten und folgerichtig anderes sahen.

      Welcher Blickwinkel aber war das? Was ich dazu gefunden habe, lässt wenig von Lenins Behauptung übrig, hier seien kleinbürgerliche Anarchisten, hysterische Intellektuelle, notorische Opportunisten am Werke gewesen. Viel angemessener erscheint mir die aktuelle Einschätzung russischer Historiker, dass sich in Bolschewiki und Menschewiki auf unterschiedlichen Traditionen der revolutionären Bewegung, verschiedenen Interpretationen der marxschen Lehre fußende marxistische Fraktionen, später selbständige Parteien, gegenüber standen.

      »Während sich […] im Westen die Marxisten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Revolutionäre und Sozialreformisten teilten, geschah in Russland, wo alle politischen Teilungen im Vergleich zu denen Europas und Amerikas beträchtlich weiter links verliefen, die Spaltung zwischen den Revolutionären selbst, die radikaleren Anhänger des Sturzes der bestehenden Ordnung ihren gemäßigteren und vorsichtigeren Genossen gegenüberstellend, die jedoch die Notwendigkeit einer russischen Revolution nicht verneinten.«20

      Gegenüber einseitiger Betonung und für die Menschewiki herabsetzender Interpretation klassenmäßiger Unterschiede wird heute beachtet, »dass Bolschewiki und Menschewiki sich nicht vor allem nach ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrem Endziel unterschieden, sondern nach der politischen Kultur und dem Typ des Verhaltens ihrer Mitglieder: einem radikal-konfrontativen bei den ersten und einem zur Suche nach Kompromiss und Konsens strebenden bei den zweiten«.21 Ein wesentlicher Unterschied wird darin gesehen, dass Lenin ein respektvolles, aber freies, kreatives Verhältnis zum marxschen Erbe vertrat, dass er und seine Anhänger Träger neuer, radikalerer und der russischen revolutionären Tradition des 19. Jahrhunderts nahestehender Ideen waren, während die Menschewiki, mit einem dogmatischeren Verhältnis zum Marxismus, »von Anfang an zu den organisatorischen Normen und der Taktik tendierten, die in der II. Internationale galten, obgleich sie in gewissem Maße auch die nationale Spezifik Russlands berücksichtigten«.22

      Wir haben es also mit der Konfrontation von Sichtweisen zu tun, die auf dem Boden der sozialistischen Bewegung entstanden und, die eine wie die andere, um der proletarischen Sache willen verfochten worden sind, und nicht mit der Abwehr der Angriffe verkappter Klassenfeinde durch die Bolschewiki. Das macht die Sache freilich nicht einfacher. Die beiden Strömungen in der russischen Sozialdemokratie bildeten keine Ausnahme »in der politischen Arena Russlands, wo in den Wechselbeziehungen zwischen Partnern stets Konfrontation und Kampf überwogen, und nicht die Suche nach Kompromiss und Übereinstimmung«.23 Die folgende Feststellung Tjutjukins ist also wohl zu beachten:

      »Nach dem II. Parteitag der SDAPR gestalteten sich die Beziehungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki quälend schwierig. Aus der Sphäre der Organisationsfragen sprangen die Meinungsverschiedenheiten auf Probleme der Taktik und Strategie der Partei über, und später kam es zum völligen Unverständnis füreinander und zu gegenseitiger Ablehnung: Sagten die Bolschewiki ›ja‹, antworteten die Menschewiki automatisch mit einem unverzüglichen ›Nein‹ und umgekehrt. Zugleich blieb bei den Mitgliedern beider Fraktionen das Bewusstsein gemeinsamer programmatischer Prinzipien und das Streben nach Einheit des Handelns angesichts des gemeinsamen Feindes, der Selbstherrschaft und der Bourgeoisie, erhalten.«24

      Auch in den Beiträgen der Menschewiki zum langandauernden und heftigen Streit sind polemische Zu- und Überspitzung oft mit Händen zu greifen. Sie haben eine Verständigung ganz gewiss nicht erleichtert, aber im Kern ging es um Einwände und Probleme, die sich nicht selten als schicksalsbestimmend für die weitere Entwicklung erweisen sollten. Dass die Vorstellung der Menschewiki von einem demokratischen Sozialismus unter den russischen Bedingungen nicht realisierbar war, dass sie ihr – niemals einheitliches – Konzept von Organisation und politischer Taktik nicht in tragfähige gesellschaftliche Veränderungen umsetzen konnten und sich in entscheidenden Augenblicken der russischen Geschichte als nicht handlungsfähig erwiesen, haben jüngere Forschungen russischer Historiker deutlich gemacht.25 Das aber – dies müssen wir uns entgegen früheren Gewohnheiten vor Augen halten – entwertet ihre in der damaligen Diskussion vorgebrachten Argumente nicht. Der Kritiker verliert sein Recht nicht dadurch, dass auch er das vorliegende Problem letztlich nicht lösen kann, und schon gar nicht dadurch, dass er Auffassungen vertritt, die dem Kritisierten nicht genehm sind. Wir sind heute in der Lage, dass wir die Geschichte im Nachhinein nach der Berechtigung und dem Gewicht der Argumente und Vorstellungen befragen können, die Lenin damals entgegen gehalten wurden, und dass wir sie sachlich und kritisch erörtern können, was damals und auch später zum Schaden für die Arbeiterbewegung und die ganze Gesellschaft versäumt und verhindert wurde. Das wird uns schließlich helfen, etwas tiefer in den Charakter, die Probleme der von Lenin angestrebten und realisierten Organisation einzudringen, als deren Bestandteil er die proletarische Presse definierte und die mit ihrer Funktionsweise natürlich auch den Charakter der Parteipresse, die ihr zugemessenen oder verweigerten Funktionen bestimmen musste.

      Dass soviel nachzuholen ist bei der Kenntnisnahme vom theoretischen Erbe der Menschewiki und dass die Quellen dafür nicht eben leicht zugänglich sind, hat mich zu ausführlicherem Zitieren bewogen, als es vielleicht normalen Lesegewohnheiten angemessen wäre. Aber ich kann den Leser nur bitten, das in Kauf zu nehmen.

      Drittens: Lenin hat stets sehr aufmerksam verfolgt, was sich in der Sozialdemokratie des Westens entwickelte. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, in die Suche nach Lösungen für eigene Probleme »die ganze Erfahrung der internationalen Sozialdemokratie« einzubeziehen. Nicht nur in Pressefragen suchte er Hilfe bei der deutschen Partei. Schon bei der Vorbereitung der Iskra hatte er davon geträumt, eine »russische sozialistische Post«26 nach dem Vorbild des Vertriebsapparats des unter dem Sozialistengesetz illegal und im Ausland herausgegebenen Sozialdemokrat zu schaffen. Gerade um die Zeit herum, da er Parteiorganisation und Parteiliteratur schrieb, wurde die deutsche Sozialdemokratie von zwei oben erwähnten Konflikten im Verhältnis von Partei und Presse bewegt: dem um die Mitarbeit sozialdemokratischer Journalisten an der bürgerlichen Presse und dem um die ›Literatenrevolte‹ 1904/05, eine Fraktionsbildung in der Redaktion des Zentralorgans Vorwärts, die deren Arbeitsfähigkeit zeitweilig stark beeinträchtigte. Beides stand in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit dem Revisionismusstreit. Lenin hat beides genau zur Kenntnis genommen und sich darauf bei ähnlichen Problemen in der eigenen Partei bezogen. Weiterhin haben die Auseinandersetzungen in der SDAPR auch im Ausland ihr Echo gefunden. Karl Kautsky wurde direkt in sie einbezogen – die Iskra veröffentlichte in ihrer Nr. 66 vom 15. Mai 1904 einen Brief Kautskys, mit dem er einen ihm von bolschewistischer Seite zugesandten Artikel über den