Die zu literarischen Ehren gekommene Obst- und Gemüsehändlerin und ihre lebenden Vorbilder erscheinen als starke Frauen, selbstständig und selbstbewusst. Im Vergleich zu anderen Händlerinnen, die bei Wind und Wetter ihre selbst herbeigeschleppten Waren zu verhökern hatten, war sie geradezu privilegiert. Ihr geistiger Vater nennt sie »eine b’lehrte und b’lesene Person«.
Fliegende Händler
Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert spielte sich ein großer Teil des Handels auf der Straße ab, stellte der Historiker Hubert Kaut fest. Er unterschied drei Berufsgruppen: Handwerker, Händler auf dem Markt und fahrende Händler. Die Werkstätten der Handwerker hatten selten ein Verkaufslokal. In Ermangelung eines Schaufensters präsentierten sie ihre Erzeugnisse auf Tischen und Bänken vor dem Geschäft und reichten die Waren den Kunden einfach durch die Tür oder das Fenster hinaus.1
In Jahrmarktshütten und bei Ständen auf den Wochenmärkten bot man Viktualien (»Lebensmittel und andere zur Führung des Haushalts erforderliche Waren«)2 und Gegenstände des täglichen Bedarfs an. Ludwig Berekoven zeichnete im Lehrbuch »Geschichte des deutschen Einzelhandels« eine Entwicklungslinie: »Aus dem ursprünglich nicht ortsgebundenen Hausier- oder Wanderhandel entwickelte sich mit dem Aufkommen der Städte der ortsgebundene Straßenhandel (fliegende Händler). Mancher Hausierer ließ sich in der Stadt nieder. […] Der Höker, Winkler bzw. arme Krämer wurde der erste stationäre Einzelhändler. Er führte in der Regel eine kümmerliche Existenz und genoß nur geringes soziales Ansehen. Im allgemeinen handelte der Höker mit Nahrungsmitteln in kleinen und kleinsten Mengen. Diese Erwerbstätigkeit bot oft alleinstehenden Frauen ein bescheidenes Auskommen. Anfangs breiteten die Höker ihre Waren auf dem Boden auf. Später benutzten sie Holzböcke, über die sie Bretter legten, sodaß Verkaufstische entstanden. Die leicht verderblichen Waren schützte man mit einem Leinendach vor Regen oder Sonne. Als Kram bezeichnete man im Mittelhochdeutschen ein ausgespanntes Tuch, bzw. eine Zeltdecke[auch die Ware selbst]. Eine Bude hatte an der vorderen Holzwand zwei Läden, von denen einer aufgeklappt als Verkaufstisch, der andere als Überdachung diente.«3
Bauern als Marktzieher
Johann Pezzl (1756–1823) zählte zu den Reiseschriftstellern der Aufklärung, die Wien eine »Skizze« widmeten. Von 1786 bis 1790 erschienen fünf Hefte mit Beschreibungen »dieses in jedem Betracht merkwürdigen Platzes«, wobei Pezzl nicht nur Sitten und Zeitgeist kommentierte, sondern auch andere Schreiber kritisierte. So liest man über die »Konsumtion«: »Nichts ist schiefer als die Miene jener Schriftsteller, die darüber klagen und heulen, daß eine große Residenzstadt alle Ernten, Weinlesen, Hammelställe, Hühnerhöfe, Obstgärten und Fischteiche auf zwanzig Meilen rings um sich her aufzehre. Gerade jene Landleute sind die wohlhabendsten, besitzen das schönste Vieh, die besten Häuser, die wohlbestelltesten Felder, Gärten, Weinberge und Triften, die sich im Gesichtskreise der Hauptstadt befinden. […] In der Tat, der Magen von Wien ist ein Schlund, der den Überfluß aller benachbarten Provinzen verschlingt, und desto besser für dieselben.«4
Seit Jahrhunderten versorgten die Bauern der näheren und weiteren Umgebung die Städter mit Lebensmitteln. Auch die Bürger betrieben Landwirtschaft, aber meist nur Weinbau. Am Dienstag und am Samstag (seit 1578 auch am Freitag) konnten sie auf dem Wochenmarkt für die nächsten Tage Lebensmittel einkaufen.5 Die Marktordnungen bevorzugten das direkte Geschäft zwischen ländlichen Produzenten und städtischen Konsumenten.6 Streng reglementiert wie die Marktzeiten, Waren und Verkaufsplätze war die Frage, wer für wen produzieren durfte: Berufsgärtner zunächst nur für den Hof, Bauern für die Bürger.7 Von »freier Marktwirtschaft« war keine Spur. Außerdem standen verschiedene Interessengruppen einander unversöhnlich gegenüber: Bauern als Produzenten und Verkäufer, Zwischenhändler, Hausierer, ansässige zünftisch organisierte Kaufleute und Obrigkeiten, denen die »Wohlfeilheit« ein Anliegen war.
»Wir sind im Hochsommer, es ist zwei Uhr; noch herrscht nächtliche Ruhe in allen Straßen […]. Wien scheint ausgestorben. Wir nähern uns dem Marktplatze, und plötzlich verändert sich das Bild. In allen zum Hofe, zur Freyung, zum Judenplatz führenden Gassen und Straßen wird es lebendig […]. Im weiten Umkreis um den Markt stehen Wagenburgen – nicht jene der vornehmen Gespanne zwar, die während des Tages hier aneinander vorüber fliegen, sondern verwahrloste, ärmliche Leiter- und Steirerwagen jeden Schlages, jeder Facon, jeder Herkunft. Die Wagen sind alle bespannt, aber schon abgeladen, der Kutscher liegt in seinen Kotzen gehüllt und schläft den Schlaf des Gerechten; er braucht diese Ruhe denn er ist meilenweit vom flachen Lande her, Tag und Nacht, oft 15 bis 16 Stunden aus dem oberen Donauthal und dem Wienerwald, aus dem Tullnerfeld und dem Marchfeld […] mit Gemüse und Obst zugefahren. Es sind […] 800 bis 1000 Gefährte.«8 So schildert das Ende des 19. Jahrhunderts erschienene »Kronprinzenwerk« die »Approvisionierung der Großstadt«.
Ein Wiener Marktbild zur Zeit der Monarchie: »Am Hof«
Obst und Gemüse kam aus spezialisierten »Marktfahrergemeinden«. Groß-Engersdorf, Manhartsbrunn oder Pillichsdorf in der Wolkersdorfer Gegend (Bezirk Mistelbach, Niederösterreich) behielten diese Funktion bis weit ins 20. Jahrhundert bei. Ihnen hat der Volkskundler Werner Nachbagauer seine Dissertation gewidmet. So genannte Marktzieher, Bauern und Lastfuhrwerker, besorgten den Transport.9 Die Langenzersdorfer aus dem Bezirk Korneuburg (Niederösterreich) lieferten Früchte und landwirtschaftliche Produkte. Aus Nussdorf (Wien 19) kamen Milch, Obst und Gemüse.
»Buckelkörbler« reisten aus der Gegend von Mattersburg (Burgenland) an. Eine Approvisionierungs-Enquete in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts lobte »die so genannten Hernzen oder Wieser«: »Dieses Volk ist unendlich thätig, unermüdet, gleichsam die Bienen, die für Wien nach allen Richtungen sorgen.«10 Heanzen (Heinzen, Hienzen, Hinzen) nannte man die – im 11. und 12. Jahrhundert eingewanderten – deutschsprachigen Bewohner des südlichen und mittleren Burgenlandes und der Randgebiete des ungarischen Komitates Ödenburg (Sopron). »Heanzenland ist Bauernland« lautete eine bekannte Gleichung.11
Die Marktfahrt erfolgte häufig zu Fuß. Körbe, Krüge, Butten, Simperln, Amper, Krächsen, Säcke, Fässer, Kisten und Rucksäcke dienten beim Transport als Behälter. Frauen trugen die Ware oft auf dem Kopf.12 »Wenn es in den Straßen leer und still geworden ist – das Wiener Nachtleben ist gering – dann beginnen Karawanen geheimnisvoll zwischen den Häuserreihen zu ziehen. An jedem der vollbeladenen Wagen hängt eine Laterne. Nebenbei huschen, ohne zu sprechen, im Dauerlaufe, Frauen, hochbeladen, Butten auf dem Rücken, die überdies durch Körbe gekrönt werden, nach den einzelnen Plätzen. Sie sind, nachdem die Eisenbahnen sie abgesetzt, bei den Linien hereingekommen oder haben meilenweit über das flache Land den Weg bis Wien zu Fuß gemacht.«13 Den Herausgebern des 1895 erschienenen Werkes »Wienerstadt. Lebensbilder der Gegenwart« schienen diese Bauern und Bäuerinnen so typisch, dass sie diese gleich in der Einleitung beschrieben.
In Bockfließ (Weinviertel, Niederösterreich) begann der Fußweg um 16 Uhr des Vortages, in Floridsdorf (Wien 21) wurde genächtigt, um bereits um 2 Uhr früh auf dem Markt zu sein. Um 13 Uhr trat man den Heimweg an. Zum Vergleich: Mit dem Auto braucht man für die 30 Kilometer lange Strecke eine halbe Stunde. Die Stammersdorfer (Wien 21) brachten bis in die 1920er Jahre zu Fuß »Wiener Kram« in Butten auf den Markt Am Hof. Das waren Eier, Fisolen, Erbsen, Erdäpfel und Paradeiser. Die Butten dienten neben dem Transport zum Auslegen der Früchte, wobei man sich lange Zeit mit auf den Boden gebreiteten Tüchern begnügte. Gemüse verkaufte man stückweise oder bundweise, oder man schätzte das Gewicht. Der Gewichtsverkauf – meist mit von der Stadt geliehenen Waagen – setzte sich erst seit den 1870er Jahren durch.
»Wer den Mund nicht aufbringt, hat auf dem Markt keine Chance«, wussten die Weinviertler Bauern. Für manche soll die Redegewandtheit ein entscheidendes Kriterium bei der Brautwahl gewesen sein, denn der Verkauf