erkundest du dein Zimmer, den Garten und dann die Straßen der Umgebung – bis zu der Ecke, hinter der du dich beim Versteckspiel noch verbergen darfst, ohne dass es geschummelt wäre. Der Radius, in dem du dich zuhause fühlst, wird immer größer. Irgendwann darfst du allein zur Schule oder zum Fußballtraining gehen. So habe auch ich die Welt erobert, mit einem Rad, an dem ein orangefarbener Wimpel befestigt war. Mit siebzehn bin ich schließlich von zuhause ausgezogen. Ich kehre regelmäßig dorthin zurück und bezeichne es immer noch als mein «Zuhause». «Fahrt ihr manchmal noch nach Hause?», frage ich meine Freunde.
Doch lange bevor mein Elternhaus zu einem Zuhause auf Distanz wurde, in das man hin und wieder zurückkehrt, machte mein Körper dieselbe Entwicklung durch. Mit zunehmendem Aktionsradius nahm auch die Distanz zu meinem einzigen lebenslänglichen Zuhause zu: zu diesem Körper, der dich jetzt festhält. Ich verlegte meinen Lebensmittelpunkt woandershin. Mein Körper war nur dazu da, meinen Kopf durch die Gegend zu tragen – für meinen Geschmack viel zu langsam –, sowie außerdem noch meinen Stift zu halten: ein notwendiges Übel.
Ab wann begann dieser Rückzug? Als mein Körper sich langsam auf etwas vorbereitete, das ich gar nicht wollte – auf ein Kind –, weshalb ich nicht mehr die Schnellste in der Klasse war? Oder als ich wieder mal mit «junger Mann» angesprochen wurde und ahnte, dass es das letzte Mal sein würde, da sich unter meiner Jacke kleine Brüste verbargen? Als ich mich nicht mehr nackt unter den Rasensprenger stellte? Als ich Dehnungsstreifen an mir entdeckte? Geschah es, als mein Körper damit begann, unwillkommene Gäste einzuladen, die laut an die von mir mit aller Macht zugehaltene Tür klopften – Gäste, für die mein Körper aber trotzdem monatlich die Gebärmutter neu tapezierte?
Das sind nur einige wenige Beispiele, von denen es bestimmt unzählige gibt. Doch du, mein Kleiner, weißt noch nichts von alledem, für dich sind diese Worte kaum mehr als Schwingungen meiner Stimmbänder. Du bist einen warmen, summenden Körper in unmittelbarer Nähe gewohnt. Wohingegen ich mit der Zeit immer weniger mit meinem Körper vertraut war, mich immer weniger darin aufhielt. Ich drehte die Heizung herunter und wünschte ihn weit fort. Ich sorgte für Ersatz, indem ich mir einen Zweitwohnsitz aus Papier errichtete. Anscheinend hatte ich beschlossen, dass das Tagebuch eine angenehmere Bleibe ist.
Die Kladden habe ich immer noch und kann darin blättern, ihnen entnehmen, dass mir damals durchaus bewusst war, was da passiert. Denn ab und zu hielt ich Momente fest, in denen ich doch wieder kurz in ihn zurückgekehrt war: «Heute habe ich mich drei Stunden lang richtig zuhause gefühlt in meinem Körper.»
In diesen Einträgen beschrieb ich, wie ich bei Nacht im Meer gebadet hatte oder in Sonnenstrahlen getaucht im Bad saß und dabei zusah, wie kräuselnd Dampf von meinen Armen aufstieg. «Schöne Stunden in meinem Körper.» Und was war mit den übrigen Stunden? Die müssen anderswo stattgefunden haben.
Man kann Dinge erst dann beschreiben, wenn man ein bisschen Abstand dazu gewonnen hat. Mein Körper tritt erstmals ab meinem zwölften Lebensjahr in meinem Tagebuch in Erscheinung. In diesem Jahr mache ich meinen ersten Hungerversuch, und auch das Wort «sexy» feiert Premiere. Außerdem beginne ich damit, mich regelrecht auseinander zu nehmen; meine Oberschenkel finden keine Gnade, mein Po schon, mein Bauch kommt mir ein bisschen zu vorstehend vor. Die wenig schmeichelhafte Skizze, die das illustrieren soll, weist Pfeile auf. Sie sind auf jene Zonen gerichtet, die an meinem Körper zu wünschen übrig lassen. Mit Hilfe bestimmter Übungen lassen sie sich gezielt trainieren. Nur höchst selten erlebe ich meinen Körper als selbstverständlich, als nahtloses Ganzes, das wirklich zu mir gehört: «Schöne Stunden in meinem Körper», schreibe ich dann.
Mein lieber Neffe. Solange du noch klein bist, ist «Zuhause» ein Ort, den du als gegeben voraussetzt, so wie du auch deinen Körper nicht infrage stellst. Solange dir nichts wehtut, ist alles in bester Ordnung mit ihm. Er isst, rennt und klettert auf Bäume.
Vorläufig willst du nichts an deinem Zuhause verändern. Eine Einbauküche? Wozu denn? Du dürftest auch vehement gegen einen Teppich auf der Treppe sein, der das abgetretene Linoleum ersetzen soll – das mit den Löchern, durch die du das Holz darunter so gut erkennen kannst, was auch das Knarren erklärt. Jede Verbesserung würde dich bloß traurig stimmen. Du willst keine neue Tapete, und Ritzen in der Wandverkleidung sind doch ideal, um Zettel hineinzustecken.
Doch irgendwann – wenn du von einer langen Reise zurückgekehrt bist – wirst du die Dinge anders sehen. Du siehst ein altes Haus am Rande einer mittelgroßen niederländischen Stadt mit hässlichen Siebzigerjahre-Fliesen. Im Flur stören dich auf einmal die Holzverkleidung und die Jutetapete. Kann das nicht weg? Und was soll dieser Schimmelfleck an der Wand? Warum steht dieses Haus nicht in einer Stadt, in der richtig was los ist?
Die Selbstverständlichkeit sämtlicher Bestandteile geht verloren. Auf einmal ist alles bloß noch Stückwerk, und das Haus, in dem man aufgewachsen ist, ist vergleichsweise schäbig. Was bleibt, ist der kleinste gemeinsame Nenner: ein Haus, einfach bloß ein Haus. Andere Häuser gefallen dir womöglich besser.
Die Ansprüche, die ich zunehmend an mein Haus stellte, formulierte ich, indem ich mein Zimmer einrichtete: Monat für Monat stellte ich die Möbel um, schaffte Kissen und Decken an, um so gemütliche Ecken zu schaffen. Ich kaufte Duftkerzen, die nach Vanille rochen. Noch nie zuvor hatte ich das Bedürfnis nach Duftkerzen gehabt.
Ich glaube, dass es unweigerlich so kommen wird, mein kleiner Neffe: Irgendwann wirst du dein Haus mit den Augen eines Fremden betrachten. Ich weiß noch genau, wann es bei mir soweit war.
Wir fuhren in einem dunkelblauen Volvo ohne Klimaanlage in einem Rutsch bis nach Ancona und nahmen dort die Fähre nach Griechenland. Vier Schwestern verschmolzen auf der Rückbank miteinander. Weil für so viele Schultern kein Platz war, mussten sich zwei von uns abwechselnd vorbeugen. Wir teilten uns abwechselnd den Walkman, und ich schlug meiner kleinsten Schwester unterwegs einen Milchzahn aus. Irgendwann erreichten wir eine weiß gekalkte Villa auf dem Peleponnes. Wir drehten die glühend heißen Steine im Garten um und suchten nach Skorpionen, die wir dann irgendwann in unseren Betten vorfanden. Nachts konnten wir die Milchstraße in Form einer vagen Rauchfahne hinter den Sternen erkennen. Das Meer, das uns umgab, war dasselbe, das auch Odysseus befahren hatte, und wir verbrachten den ganzen Tag mit Schwimmen und Tauchen, bauten außerdem Sandburgen. Wir wurden braun wie Karamell, und wenn wir unseren Badeanzug auszogen, um uns mit Süßwasser aus dem Gartenschlauch abzuduschen, kam hellrosa Haut zum Vorschein. Von Trägern zurückgelassene Streifen kreuzten sich auf unseren Rücken. Um sie zu verewigen, stellten wir uns nackt nebeneinander und baten um ein Foto. Die älteste Schwester – deine Mutter – wollte dabei schon nicht mehr mitmachen.
In meiner Erinnerung ist das einer der schönsten Sommer überhaupt. Trotzdem hatte ich es eilig, wieder nach Hause zu kommen, denn dort wartete die Orientierungsstufe. Ich war fast zwölf und voller Ungeduld, weil ich dringend in die siebte Klasse kommen wollte. Ungeduld empfand ich auch unserem Haus gegenüber, das mir bei unserer Rückkehr genauso klein und nichtig vorkam wie die Aufgaben im Haushalt, der Geruch, die Vertrautheit. Ich fieberte dem Einführungstag entgegen, an dem dann innerhalb weniger Stunden Grenzlinien gezogen und Allianzen geschmiedet wurden, die die nächsten Jahre gelten sollten – aufgrund von Aussehen, Selbstbewusstsein und Klamottenbudget.
Ich war erst wenige Wochen in der Orientierungsstufe, als die Urlaubsfotos kamen. Die Reise schien Lichtjahre her zu sein. Auf einem der letzten Fotos sind drei kleine Mädchen vor einer weißen Wand zu sehen – meine Schwestern und ich. Wir haben uns mit dem Rücken zur Kamera der Größe nach aufgestellt, wie die Orgelpfeifen. Ich musterte mich gründlich, entdeckte erste Rundungen an den Hüften, stellte fest, dass ich eigentlich X-Beine hatte und mit dem rechten Knöchel einknickte. Ich versteckte das Foto in meinem Zimmer, damit es nicht eingeklebt werden konnte, holte es aber mit einem unguten Gefühl immer wieder zum Vorschein.
Das war der Moment, in dem ich auf mein Zuhause zurückblickte und es als das sah, was es tatsächlich war: einfach bloß ein Körper, der nur zufällig und nicht mehr bedingungslos zu mir gehörte.
Mein kleiner Neffe, ich glaube nicht, dass ich mich je wieder irgendwo so heimisch fühlen werde – weder in einem Zuhause aus Ziegeln noch in einem aus Haut und Knochen – zumindest nicht so wie du es die nächsten Jahre tun wirst. Ich kehre nach wie