Harry Voß

Die Gefangene des Königs


Скачать книгу

sie über alles Mögliche andere: die Weihnachtsfeier in der Schule, die Weihnachtsgeschenke, die Hausaufgaben – aber nicht über das unheimliche Mädchen. Da hörten sie, wie oben ein Fenster geöffnet wurde. Keiner von den Dreien sah nach oben. Es war, als gruselte es ihnen vor der unheimlichen Gestalt, die sie nun schon zweimal gesehen hatten, die es aber laut Herrn König dort nicht gab.

      Ein Blatt Papier segelte von oben herunter und landete neben den Kindern auf dem Gehweg. Jemand hatte etwas darauf gemalt. Eine Tüte. Oder eine Tasche. Oder einen Sack? Jedenfalls sah es so aus, als wäre diese Tasche oben zugeknotet. Oder unten, je nachdem, wie herum man das Bild betrachtete. Sofort blieben die drei stehen.

      „Was ist das?“, fragte Lisa nachdenklich.

      Timo schaute zum oberen Fenster von Herrn Königs Haus. „Es kommt von da oben!“

      „Das weiß ich auch“, sagte Lisa. „Ich habe nicht gefragt, woher es kommt, sondern was das sein soll.“

      „Eine zugeknotete Tüte“, sagte Flo. „Eine Einkaufstasche.“

      „Könnte auch sein Sack sein“, überlegte Lisa.

      Timo betrachtete das Bild genauer. „Es ist ein Sack“, bestätigte er. „Genau so habe ich mir den Sack vom Nikolaus vorgestellt, in dem ich weggetragen werden sollte.“

      Flo schaute nach oben zum Fenster. Niemand war zu sehen. „Eine Botschaft“, murmelte er. „Das Mädchen am Fenster sendet uns eine Nachricht!“

      Lisa nahm den Zettel in die Hand und betrachtete ihn genauer. „Aha? Und welche?“

      Timo zeigte auf den gezeichneten Sack: „Dass wir am 6. Dezember alle in den Nikolaussack gesteckt und fortgetragen werden!“ Er schüttelte sich. „Das da oben ist tatsächlich ein Geist, der uns warnen will! Wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass wir verschleppt werden! Ich muss mein Zimmer aufräumen! Ich muss lauter nette Sachen zu meiner Schwester sagen!“

      „Hör doch auf damit!“, schimpfte Lisa. „Du hast selbst gesagt, das mit dem Nikolaus sind nur leere Drohungen von deinen Eltern gewesen!“

      „Ja, aber dieses Blatt hier kommt nicht von meinen Eltern, sondern von dem geheimnisvollen Wesen aus dem oberen Stockwerk von Herrn König! Es ist ein Himmelswesen! Und es erscheint uns einmal am Tag, um uns zu warnen!“

      „Nein, nein.“ Lisa hielt das Bild in der Hand und rieb sich das Kinn. „Aber was sonst könnte das bedeuten?“

      „Gefangen!“, fiel es Flo plötzlich ein. „Das Mädchen ist dort oben im Zimmer von Herrn König gefangen! Der Sack steht symbolisch für eingesperrte Kinder, so wie Timo es gesagt hat! Und sie will uns sagen, dass sie dort oben eingesperrt ist! Wir sollen sie retten! Das hat sie uns doch gestern schon versucht zu sagen, als sie ‚Hilfe‘ an die Scheibe geschrieben hat!“

      Lisa schaute ihn nachdenklich an. „Meinst du wirklich?“

      „Mir ist das unheimlich“, sagte Timo. „Wir müssen es unseren Eltern erzählen. Die sollen die Polizei rufen.“

      „Das stimmt“, sagte Flo. „Ich sage gleich nachher meinen Eltern Bescheid.“

      „Moment noch“, sagte Lisa und ging direkt auf das Hoftor von Herrn König zu. Sie klingelte einmal, zweimal, dreimal.

      Herr König erschien am Fenster, öffnete es aber nicht. „Haut ab!“, schimpfte er durch das geschlossene Fenster. „Sonst rufe ich die Polizei!“

      „Wir rufen die Polizei!“, rief Lisa ihm laut zu. „Sie halten nämlich ein Mädchen in Ihrem oberen Zimmer gefangen! Lassen Sie es sofort frei!“

      Herr König zog sein Gesicht finster zusammen, dann winkte er mit der Hand ab und verschwand.

      „Mama mia“, stöhnte Lisa.

      Timo sah Lisa verwundert an: „Was meinst du damit eigentlich immer?“

      „Ich könnte auch ‚Ach du meine Güte‘ sagen, aber meine Oma sagt auch immer: ‚Mama mia‘!“

      „Ich sage jedenfalls meinen Eltern Bescheid“, kam Flo noch einmal auf die Sache mit dem rätselhaften Mädchen zurück. „Außerdem müssen sie mir erklären, wieso sie von einem Christkind singen und erzählen, das es überhaupt nicht gibt.“

      5. Dezember

      Zuhause erzählte Flo, was Lisa, Timo und er bei Herrn König erlebt hatten.

      „Das ist wirklich seltsam“, sagte die Mutter anschließend. „Wenn ich nicht genau wüsste, dass Herr König allein in seinem Haus wohnt, würde ich sagen, da hat euch ein Kind aus dem Fenster zugewunken und dann ein Bild gemalt und aus dem Fenster geworfen. Dass Herr König allerdings meint, das alles sei nicht wahr, das macht die Sache wirklich rätselhaft.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Wir reden nachher mit Papa noch mal drüber. Ja?“

      Als der Vater von der Arbeit kam und Flo ihm am Esstisch seine Erlebnisse noch einmal schilderte, fand der das auch seltsam. „Ich denke, wir gehen mal rüber zu Herrn König und erzählen ihm, was du gesehen hast“, schlug er vor. „Vielleicht klärt sich ja alles ganz schnell auf, wenn wir ihn mal direkt fragen.“

      „Noch was anderes sollten wir klären“, fiel Flo plötzlich ein. „Wieso lügt ihr mich im Advent immer an?“

      Der Vater machte ein erschrockenes Gesicht. Und auch die Mutter, die neben dem Vater am Tisch saß, schnappt laut nach Luft. „Wo lügen wir dich denn an?“, fragte der Vater nach.

      „Gibt es Gespenster?“, fragte Flo geradewegs heraus.

      „Nein“, antwortete der Vater und wunderte sich immer noch.

      „Gibt es Geister?“

      Der Vater runzelte die Stirn. „Nein. Geister, die wie Gruselgespenster um Mitternacht kommen, gibt es nicht“, antwortete der Vater schließlich.

      „Gibt es das Christkind?“

      Der Vater stutzte kurz, dann huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht, er schielte kurz zur Mutter rüber und schaute dann wieder Flo an. „Ach, das meinst du.“ Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne und legte beide Unterarme auf dem Tisch ab. „Also, weißt du, Flo, wenn die Kinder kleiner sind, dann erzählt man ihnen gern, dass die Geschenke an Weihnachten von außen gebracht werden. Vom Christkind oder vom Weihnachtsmann. In anderen Ländern ist es Santa Claus, Jultomte oder Väterchen Frost. Es sind weihnachtliche Märchen, die irgendwie gut zu unserer weihnachtlichen Stimmung passen. Auch der Nikolaus, der obendrein noch kommt, trägt dazu bei, dass die Weihnachtszeit insgesamt einen geheimnisvollen, märchenhaften Glanz bekommt. Wir denken noch so gerne an die großen Augen, die du gemacht hast, als du zum ersten Mal vor dem geschmückten Weihnachtsbaum gestanden hast und wir dir die Geschenke überreicht haben, die dir das Christkind gebracht hat.“

      „Aber dann habt ihr mich immer angelogen!“

      Der Vater schaute die Mutter kurz an. Die musste ein Grinsen unterdrücken. „Sind Märchen eine Lüge?“, fragte der Vater. „Wenn wir dir ein Märchen vorlesen, zum Beispiel das vom Froschkönig, dann weißt du doch auch, dass diese Geschichte nicht in Wirklichkeit passiert ist. Jeder weiß, dass ein Frosch nicht reden und sich nicht in einen Prinzen verwandeln kann. Trotzdem gefällt dir die Geschichte.“

      „Das ist aber was anderes. Wenn ihr mir eine Geschichte vorlest oder wir uns einen Film anschauen, dann weiß ich, dass das nicht in echt passiert ist. Ich erinnere mich sogar noch daran, dass ihr einmal, als mir ein Film zu spannend war, gesagt habt: ‚Das ist doch alles nur gespielt!‘ Wenn ihr aber sagt: ‚Das Christkind hat die Geschenke gebracht‘, dann sagt ihr nie: ‚Das ist nur gespielt.‘ Dann freut ihr euch darüber, wenn ich euch das als Kind glaube. Eigentlich legt ihr mich da rein.“

      Jetzt schaltete sich die Mutter ein: „Na ja, wir haben natürlich gedacht, du hast inzwischen selbst herausgefunden, dass nicht das Christkind die Geschenke unter den Baum legt, sondern wir.“

      „Ja,