Edith Durham

Brot, Salz und unsere Herzen


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dieser Auseinandersetzungen waren vor allem die Albaner, auf deren Kosten die Nachbarländer ihre Territorien erweiterten. Plünderungen durch serbische, montenegrinische und griechische Truppenteile und Freischärler führten zu einem unglaublichen Gemetzel, 200 000 albanische Zivilisten sollen ihm zum Opfer gefallen sein.

      Im Mai 1903 erlebte Edith Durham selbst die Zerstörung von Shkodër, der Stadt, die sie so sehr liebte und in die sie bei ihren Reisen immer wieder zurückkehrte, durch montenegrinische Truppen.

      Durham betätigt sich als humanitäre Helferin. 1904, nach dem blutigen Aufstand in Mazedonien, bei dem Häuser niedergebrannt, Ernten vernichtet, Zivilisten getötet wurden, versorgt sie die Bevölkerung im Auftrag einer britischen Hilfsorganisation mit Nahrungsmitteln, Kleidern, Medikamenten. Nach den Balkankriegen hilft sie Tausenden von Flüchtlingen. Darüber hinaus arbeitet sie als Kriegsreporterin und Balkankorrespondentin für britische Zeitungen. Sie schickt Petitionen an die britische Regierung und informiert ausländische Diplomaten über die Lage auf dem Balkan.

      Lange gehörten ihre Sympathien auch dem serbischen Volk, aber das änderte sich mit dem Zweiten Balkankrieg und den Angriffen der Serben auf die albanischen Nachbarn. Albanien fühlte sich bedroht und von den Großmächten im Stich gelassen. In Edith Durham sahen die Menschen in der Region eine Heilsbringerin. Noch in den entlegensten Regionen setzten die Bewohner ihre Hoffnung auf sie, rechneten mit ihrer Hilfe.

      Im Oktober 1913 reist sie nach London, um vor dem britischen Parlament die Lage der Albaner zu erläutern. Dass es am 30. Mai 1913 auf Vermittlung der europäischen Mächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland, Österreich-Ungarn und Italien zum Londoner Vertrag kommt, mit dem die Unabhängigkeit Albaniens (ausgerufen im November 1912) bestätigt wird, ist eindeutig Edith Durhams Verdienst – jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

      1914 schreibt sie: »Es gibt noch keine Lösung für den Balkan.«

      Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrt sie aus Albanien nach England zurück. England hat an der Seite von Serbien und Russland Deutschland den Krieg erklärt, in Albanien ist Edith Durham persona non grata.

      In England setzt mit Beginn des Ersten Weltkriegs eine ProSerbien-Stimmung ein. Auf dem Balkan hält Serbien zusammen mit Griechenland, Italien, Frankreich, Montenegro und Österreich-Ungarn bis 1918 Albanien besetzt.

      Durham lässt sich davon nicht beirren, mischt sich weiter ein. Denn zwar wird nach dem Ende des Weltkriegs Albaniens Unabhängigkeit auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919/1920 anerkannt, aber bis 1921 halten Serben, Kroaten und Slowenen nordalbanische Orte besetzt und boykottieren die Regierung in Tirana. Dem Einsatz Großbritanniens – und damit wohl auch Edith Durhams – ist es zu verdanken, dass die Unabhängigkeit des Landes von der Pariser Konferenz im November 1921 bestätigt wird.

      1921 reist Durham noch einmal nach Albanien. Von Durrës fährt sie mit einer Gruppe junger Amerikaner in einem Wagen des Roten Kreuzes nach Tirana. »Mit Fremden ist Albanien nicht mehr Albanien«, schreibt sie in ihr Tagebuch. Und: »Bin müde. Habe das Gefühl, als gäbe es mein Albanien nicht mehr.«

      Wenig später heißt es: »Bin überwältigt von der großen Gastfreundschaft. Plötzlich schreiben sie mir alle eine Bedeutung und eine Macht zu, ich kann damit nicht umgehen. Ich habe gehört, dass sie in einigen Städten jetzt sogar Straßen nach mir benennen.«

      Noch Jahre später, 1939, da ist sie 76 Jahre alt, demonstriert sie in London auf der Straße gegen die Okkupation Albaniens durch Italien. (1943 werden die Italiener von der deutschen Wehrmacht abgelöst.) Sie ist krank, kann das Haus bald nicht mehr verlassen. Im Januar 1943 notiert sie: »Ich habe den Albanern versprochen, sie in ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit zu unterstützten. Es war ein langer Weg. Einige tapfere Männer, sehr viel jünger als ich, sind auf der Strecke geblieben.«

      Am 15. November 1944 stirbt sie in ihrem Haus in London. Im Dezember 1944 ziehen sich die Deutschen aus Albanien zurück. Albanien ist wieder frei. Vorerst. (Am 11. Januar 1946 ruft Ministerpräsident Enver Hoxha die Volksrepublik Albanien aus.)

      Ahmet Zogu, von 1925 bis 1928 Präsident Albaniens und von 1928 bis 1939 König der Albaner, würdigt Edith Durham in einem Nachruf:

      »Sie hat ihr ganzes Leben Albanien gewidmet. Sie hat uns ihr Herz geschenkt – und die Menschen aus den Bergen haben sie ins Herz geschlossen … Wir Albaner haben – und werden – die englische Lady nie vergessen. In den Bergen, in denen sie sich so gut auskannte, schallt das Echo ihres Todes von Berg zu Berg.«

      Edith Durham hat sieben Bücher publiziert, in denen sie über ihre Reisen durch den Balkan berichtet. Ihr erfolgreichstes Buch, das immer wieder nachgedruckt wurde, ist High Albania, das unter dem Titel Brot, Salz und unsre Herzen. Durch Albaniens rauen Norden nun in einer schönen neuen Übersetzung durch Christel Dormagen vorliegt. Es beschreibt ihre Reise durch die Region Malësia e Madhe, die sich vom Skutarisee und von Rjoll im Westen entlang der montenegrinischen Grenze über das Kir-Tal zum Vermosh-Tal erstreckt und im Süden an den Dukagjin mit dem malerischen Thet-Tal grenzt.

      Es beginnt mit ihrem Aufbruch in Shkodër am 8. Mai 1908, wohin sie Ende Juli desselben Jahres zurückkehrt. Es gab Gerüchte über eine neue Verfassung, und Durham, vielleicht getrieben von der Hoffnung, dass diese der albanischen Bevölkerung mehr Mitbestimmung bringen könnte, wollte rechtzeitig in der Bezirkshauptstadt zurück sein. Das Dekret, das dort am 2. August bekannt gegeben wurde, sollte den Übergang von einer absoluten zu einer parlamentarischen Monarchie festschreiben – jedoch unter osmanischer Regie, es handelte sich also um reine Augenwischerei.

      Der Weg durch die Berge war mühsam, die einzelnen Ortschaften in der zerklüfteten Berglandschaft nur unter größter Anstrengung zu erreichen. Straßen gab es keine. Eselspfade waren wenig hilfreich, wenn sie bis in den Sommer hinein unter meterhohen Schneebergen verschüttet lagen. Das ganze Gebiet war unzugänglich. Auch für die Osmanen, die in dieser Gegend nie Fuß fassen konnten. Aber der »Königin der Berge« war ihr Ruf noch ins hinterste Bergland vorausgeeilt. Die Bergbewohner empfingen die kurzhaarige Frau, die im Herrensattel unterwegs war und ihre Familien, Häuser, Kirchen, Brunnen, Trachten so schön »schreiben« konnte (sie zeichnete sie), mit größter Herzlichkeit. Auch wenn sie nichts hatten, boten sie ihr »Brot, Salz und unsere Herzen«. Durham ihrerseits ging ganz unvoreingenommen auf sie zu und schreckte auch vor »elenden Bruchbuden, ohne Fenster und pechschwarz in den Ecken« nicht zurück, wo »in einer Ecke ein Schaf festgebunden war und ein Schwein frei herumlief«.

      Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein. »Christen sind wir, und Christen waren wir seit jeher! Weder können wir unter dem türkischen Gesetz leben. Noch können wir türkische Kleidung anlegen. Wir gehorchen dem Kanun des Leka Dukgjin, dem Gesetz der Berge.«

      Der Kanun ist ein mittelalterliches Wertesystem, ein mündlich überlieferter Rechtekatalog, an den sich alle halten. Überwacht wird die Einhaltung von den Hausvorständen der einzelnen Stämme. Gesetzbücher und Richter gibt es nicht. Es gelten das Ehrenwort und die alte Regel, nach der eine Verletzung der Ehre die Blutrache erfordert, und sei es, wie Durham in ihrem Buch drastisch schildert, gegenüber einem Achtjährigen. Das ganze gesellschaftliche Leben regelt der Kanun. »Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Gast«, heißt es dort. Allein das Gastrecht konnte das Reisen im Gebirge sichern. Auch das Verhältnis zwischen Frauen und Männern war streng geregelt: Frauen hatten einen Schritt hinter den Männern zu gehen. Eine untreue Frau musste von ihrem Ehemann erschossen werden, die Kugel dafür steckten die Brauteltern ihm schon bei der Vermählung zu. Andererseits konnten Frauen ein Leben als Mann führen, sofern sie, die sogenannten Schwurjungfrauen, vor zwölf (männlichen) Zeugen schworen, bestimmte Regeln einzuhalten. Mit einer solchen Selbstkasteiung setzten sie für sich die gültigen Regeln der täglichen weiblichen Unterwerfung außer Kraft. Diese Frauen, die rauchten, Männerkleider und Waffen trugen, waren berechtigt, Blutrache zu üben.

      »In der Wildnis verlangt es mich nie nach Büchern. Sie sind immer langweilig, verglichen mit den Geschichten, die das Leben zwischen den kahlen grauen Felsen inszeniert«, schreibt Durham. Was sie in ihrem Bericht schildert, sind nicht Inszenierungen, sondern wahre Geschichten über Aberglaube, alte Bräuche, Gastfreundschaft, Stammeswesen, Blutfehden, Schwurjungfrauen, Scharmützel zwischen