sind kleiner und schwächer. Die Löhne stagnieren. Die Wohnungen sind unbezahlbar und unzulänglich. Schulen und Universitäten kämpfen mit Haushalts- und Stellenkürzungen, mit wachsenden Studierendenzahlen, mit astronomisch ansteigenden Schulgeldern, höheren Schulden und geringerem Ansehen. Bereits angeschlagen von der Konkurrenz, der Schuldenlast und dem allgemeinen Abbau der kläglichen Überreste öffentlicher und infrastruktureller Ressourcen, brechen Familien auseinander. Die neoliberale Ideologie beschönigt die Lage: Die Individuen hätten eine größere Wahlfreiheit und mehr Chancen, ihre persönliche Verantwortung wahrzunehmen.
Carl Schmitt charakterisiert den Liberalismus bekanntermaßen als das Ersetzen der Politik durch Ethik und Wirtschaft.29 Vergleichen wir nun die Politikverdrängung, die dem Neoliberalismus eigen ist: Da wären individualisierte Selbstfindung, Selbstmanagement, Eigenständigkeit, Ichbezogenheit und – gleichzeitig – ausschlaggebende unpersönliche Prozesse, Kreisläufe und Systeme. Wir haben verantwortliche Individuen, die verantwortlich gemacht und als Zentren autonomer Entscheidung dargestellt werden; und wir haben Individuen, die mit ausweglosen Situationen konfrontiert sind, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Die neoliberale Verdrängung der Politik manifestiert sich nicht in Ethik und Wirtschaft, sondern zwischen den Polen »Überlebende« und »Systeme«. Erstere kämpfen um ein Überleben in unwürdigen Verhältnissen, anstatt gegen diese Verhältnisse vorzugehen und sie umzugestalten. Bei Letzteren handelt es sich um Systeme und »Hyperobjekte« (oftmals Gegenstände einer gegenwärtigen oder künftigen Ästhetik), die uns einschränken – Dinge also, die wir sehen und darstellen, vorhersagen und wohl auch beklagen, aber nicht beeinflussen können.30
Verwundbarkeit ist für Überlebende kein Abstraktum. Einige schätzen sie letztlich sogar und leiten ihr Selbstbild daraus ab, dass sie es trotz aller Widrigkeiten schaffen, zu überleben. Die Soziologin Jennifer Silva interviewte eine Reihe von Arbeiterjugendlichen in Massachusetts und Virginia.31 Viele betonten ihre Eigenständigkeit, auf die sie setzten, weil die Erfahrung sie lehrte, dass Andere sie wahrscheinlich immer wieder im Stich lassen oder hintergehen würden. Wenn es ums Überleben geht, könnten sie nur auf sich selbst zählen. Einige haben Krankheiten oder Drogenabhängigkeit erlebt, andere mussten zerrüttete Familien oder gewaltsame Beziehungen überwinden. In ihren Augen ist der Überlebenskampf das Kernmerkmal einer als würdevoll und heldenhaft imaginierten Identität, die sich nur selbst erschaffen kann.
Die Systemszenarien kommen in der Regel ganz ohne Überlebende aus.32 Menschenleben zählen nicht. Die Annahme, sie würden zählen, gilt als erkenntnistheoretischer Fehler oder ontologisches Verbrechen, die es wiedergutzumachen gelte. Bakterien und Steine, planetarische oder gar galaktische Prozesse gelte es zu betrachten, um letztlich das Denken von der anthropozentrischen Hybris, der Anmaßung des zum Zentrum erhobenen Menschen zu lösen. Wenn Menschen überhaupt vorkommen, dann als Problem, als Exzess des Planeten, den es zu begrenzen gelte, als amoklaufende zerstörerische Gattung, als Programmierfehler der Natur.
Der Gegensatz zwischen Überlebenden und Systemen beschert uns eine Linke, die ohne Politik auskommt. In beiden Strömungen gerät der Klassenkampf – der polarisierende Kampf um gesellschaftliche Verhältnisse im Zeichen einer emanzipatorisch-egalitären Zukunft – zur Unverständlichkeit. Anstelle des politischen Kampfes der Proletarisierten haben wir einerseits die parzellierende Behauptung des Besonderen, des Überlebens des Einzelnen, und andererseits eine Obsession mit der näher rückenden, unvermeidlichen Überlebensunmöglichkeit aller. Politik verschwindet in der Sackgasse individualisierter Überlebenschancen vor dem Hintergrund des generalisierten Nicht-Überlebens und Gattungssterbens.
So stark die Überlebens- und Systemströmungen in der heutigen Linken auch sind, bietet unsere aktuelle Lage doch weiterhin Breschen für die Politik. Vier seien genannt: Erstens, den kommunikativen Kapitalismus kennzeichnet die Macht der Vielen, des Numerischen. Die Kapital- und Staatsgewalt setzt auf Big Data und auf die Erkenntnisse, die sich durch Korrelationen aus enormen Datensätzen generieren lassen. Der Treibstoff der sozialen Medien ist die Macht der Zahlen: die Anzahl der Freunde und Follower, die Anzahl der Likes und Retweets. Auf der Straße und in Bewegungen beobachten wir einen abermaligen Fokus auf das Numerische – die Vielen, die aufbegehren, demonstrieren, besetzen und blockieren. Wie mehr als ein Jahrhundert von Arbeiterkämpfen unter Beweis gestellt hat, liegt die Macht des Volkes in der Behauptung der Macht der Vielen über die Wenigen – falls das Volk sich hinreichend organisieren und zusammenschließen kann, um den Kampf aufzunehmen. Eine zweite Bresche besteht darin, dass Identität in abnehmendem Maße als Grundlage linker Politik dienen kann. Aus der Behauptung einer bestimmten Identität ergeben sich noch keine politischen Schlussfolgerungen. Identitätszuschreibungen werden in der Linken umgehend problematisiert, kritisiert und gar zurückgewiesen, wenn Aktivisten in Protesten übergreifende Gemeinsamkeiten schaffen. Der weltweit vordringende Nationalismus lässt vermuten, die Anrufung der Identität erfolge heutzutage tendenziell von rechter Seite. Einmal mehr wendet die Rechte ihre uralte Taktik an und stiehlt linke Themen und Forderungen, indem sie Identitätspolitik nun ihrerseits in den Vordergrund stellt: Der weiße Suprematismus in den Vereinigten Staaten, der Brexit in Großbritannien, der Hindu-Nationalismus in Indien und das Gesetz, mit dem sich Israel zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklärt,33 sind dafür nur einige wenige Beispiele. Die dritte Bresche steht in Verbindung mit der astronomisch anwachsenden Beanspruchung unserer Aufmerksamkeit im kommunikativen Kapitalismus, für die eine Reihe kommunikativer Kurzformen entstanden ist: Hashtags, Meme, Emoticons und bewegte .gifs sowie ein suchmaschinenoptimierter Sprachstil (Listen, FAQs, Keywords, Teaser und Linkbaits).34 Diese Kurzformen verweisen auf die herausgehobene Stellung generischer Marker, also gemeinsamer Bilder und Symbole, die den Kommunikationsfluss fördern und die Zirkulation am Laufen halten. Müssten wir alles lesen oder gar durchdenken, was wir online teilen, würden unsere Social-Media-Netzwerke erlahmen und verstopfen. In dieser Gemengelage dient das Generische als Behälter für eine Vielzahl unkommunizierbarer Inhalte. Durch gemeinsame Symbole entstehen neue Verbindungen zwischen den Protesten, und mit gemeinsamen Bezeichnungen begreifen die Menschen ihre lokalen Probleme als Partikularfälle von etwas Größerem, etwas Weltumspannendem. In der vierten Bresche stoßen die Bewegungen selbst an die Grenzen der Horizontalität, Individualität und Unterstützerrhetorik, die feste Identitäten und Interessen unterstellen. Die Folge ist ein neues Interesse an Parteipolitik und an Fragen der Parteiform – ein verstärkter Diskurs zur Organisierung der proletarisierten Vielen. Das Durchbrechen und Überbrücken der Sackgasse mit der Aufschrift »Überlebende« und »Systeme« ist möglich, durch eine neue Hinwendung zu den Strategien der Vielen, den Institutionen der Allmende und den Kämpfen der Ausgebeuteten.35
Vor diesem Hintergrund lege ich eine Theorie des Genossen vor. Der Genosse steht für ein politisches Verhältnis, in dem wir uns nicht mehr aufhalten mit den Konzepten von Überlebenden oder Systemen und mit den Hypothesen einer unverwechselbaren Besonderheit des Einzelnen oder einer Unmöglichkeit der Politik – in dem wir uns stattdessen annähern an die Gleichheit derer, die auf derselben Seite kämpfen. »Genosse« umreißt die Anforderungen an die sowie die Erwartungen der Menschen, die sich in den emanzipatorisch-egalitären politischen Kampf einbringen. Genossenschaftlichkeit erzeugt Disziplin, Freude, Mut und Begeisterung; das erläutere ich eingehend in Kapitel drei. Wenn die Linke einen radikalen Wandel will, und das ist ihr erklärtes Ziel, dann müssen wir Genossen sein.
Wie aus Unterstützern Genossen werden
Einigen Lesern erscheint »Genosse« als Form der Anrede heute vielleicht unangenehm und deplatziert. Das Wort ist der politischen Kultur in den Vereinigten Staaten wohl allzu fremd. In Europa hingegen gilt es womöglich als stalinistisch, altmodisch oder restriktiv. Ausdrücke wie »Kollege«, die weniger Verpflichtung bedeuten und sich einfacher in den kapitalistischen Rahmen der Europäischen Union fügen, werden häufiger verwendet und sind weniger anstößig. Ganz haltlos sind diese Vorbehalte nicht.
Die US-amerikanischen Berührungsängste verkennen allerdings die Geschichte des Sozialismus und Kommunismus in den Vereinigten Staaten. Und die allgemeineren Berührungsängste sind vor dem Hintergrund des Untergangs der Sowjetunion, der durchdringenden Neoliberalisierung und der Vergötterung individueller Identität durch die kapitalistische Ideologie zu sehen.