Gott Becca! Ich hab’s von Amelia gehört! Ich will nicht, dass du gehst! Das ist alles so kurzfristig! Wirklich schon morgen? Das ist so schrecklich! Wäre ich der Richter gewesen, ich hätte dich freigesprochen ...“, rief Antonia, als ich zur Tür unseres Lieblingscafés hereingeflogen kam und mich zu meinen Freunden an den Tisch gesellte. Der Schock war ihnen allen ins Gesicht geschrieben.
Meine Mitbewohnerin Amelia, die den Prozess die gesamte Zeit über mitverfolgt hatte und als Zeugin aussagen musste, hatte nach der Urteilsverkündung nicht lange gefackelt und sofort alle meine Freundinnen an unserem Stammtreffpunkt zu einer ordentlichen Verabschiedungsrunde zusammengetrommelt. Es schien für sie alle wirklich sehr überraschend zu kommen, oder sie waren einfach nur wirklich gut darin, zu überspielen, dass sie es sich die ganze Zeit schon gedacht hatten. Sie konnten nicht wirklich geglaubt haben, dass ich ohne Strafe aus der Sache herauskommen würde. So naiv war nicht einmal Antonia.
„Leute, ich will auch nicht weg von hier! Wer weiß, wie lange ich da unten bleiben muss! Ohne euch!“, klagte ich, während ich durch die Karte blätterte, obwohl ich so oder so schon wusste, was ich bestellen würde.
„Und dann auch noch die Erde! Hätten die dich nicht zu gemeinnütziger Arbeit oder so etwas in der Art verdonnern können?! Aber nein! Die Erde! Ich habe gehört, da sind alle komplett durchgedreht, laufen nackt durch die Gegend, essen nur Tiere und bringen sich gegenseitig um! Ich will nicht, dass du dahin gehst!“, sagte Marilla.
Ich musste schmunzeln. Selbst ohne sie zu kennen, hätte man sofort heraushören können, dass sie eindeutig kein Schutzengel war. Es waren viele Gerüchte über die grausamen Menschen im Umlauf – einige waren zu haarsträubend, um sie zu wiederholen – und täglich hörte man neue auf den Straßen. Die Menschen waren das Gesprächsthema Nummer Eins unter Nicht-Schutzengeln, der Mehrheit der Gesellschaft. Eine Schutzengel-Ausbildung war lang und hart, und nicht zuletzt auch teuer. Eltern mussten ihre Kinder dafür schon früh von zu Hause weggeben, um sie in Internaten unterrichten zu lassen. Viele ließen es daher von Anfang an sein und schickten ihre Engelchen stattdessen auf staatliche Schulen, damit sie andere Berufe erlernen konnten.
„Naja, sooo schlimm wird es wohl nicht werden. Aber trotzdem ist das ziemlich blöd gelaufen! Und dass das jetzt alles so schnell gehen muss, hätte ich wirklich nicht gedacht!“ Amelia kannte sich gut mit der Erde aus, war in Erdkunde immer Klassenbeste gewesen und auch sonst glatte Einser-Schülerin, weshalb man dachte, sie mit mir zusammen in ein Zimmer zu stecken, würde einen guten Einfluss auch mich haben. Es lief dann eher andersherum, denn ehe man sich versah, schwänzte sie mit mir den Unterricht, was ihren Noten aber nichts tat.
„Ich weiß!“, stimmt ich zu und steckte die Speisekarte zurück in ihre Halterung. „Ich muss heute Abend noch packen und morgen geht’s gleich nach Sonnenaufgang los!“
„Waaaaaas? Aber dann sehen wir dich ja vor der Abreise gar nicht mehr!“, stellte Tilla erschrocken fest und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie fing sofort an heftig zu schlucken, um nicht gleich in herzzerreißendes Schluchzen auszubrechen.
Ich rückte ein Stück zu ihr und nahm meine Freundin in den Arm. „Hey, ich komm doch wieder! Es wird doch alles wieder so, wie es vorher war, wenn ich wieder da bin!“
„Aber wann?“
Tja, wenn ich das nur gewusst hätte ...
„Hast du auch alles eingepackt?“, fragte Amelia besorgt und sah mit zweifelndem Gesicht auf die kleine Tasche, die ich in den Händen hielt. Sie wünschte mir nun schon zum dritten Mal eine gute Reise, bemitleidete mich sogar schon zum fast 50. Mal. Sie wühlte immer wieder in meinem Kleiderschrank, warf mir Sachen zu, die ich ihrer Meinung nach noch mitnehmen sollte. Ich packte diese sofort wieder aus und warf sie zurück in Richtung meiner Freundin, was sie nicht zu erfreuen schien.
„Ich will doch nur, dass es dir dort unten gut geht!“, sagte sie verzweifelt und kam nun mit einem Stapel Unterwäsche, den sie noch in meiner schon fast platzenden Tasche unterzubringen versuchte. Langsam begann mich ihre Überfürsorge zu nerven. So süß es auch von ihr war, dass sie sich Sorgen machte, und wollte, dass ich meine Zeit auf der Erde gut überstand, so anstrengend war es so oder so schon, sich innerhalb nur eines einzigen Tages auf das Verlassen seiner eigenen Welt für unbestimmte Zeit vorzubereiten. Da brauchte ich nun wirklich nicht auch noch meine Mitbewohnerin, um mir noch zusätzlichen Stress zu machen.
„Wenn ich da bin, kauf ich mir neue Klamotten, damit ich nicht auffalle. Oder denkst du, ich flieg da in meinem weißen Kleid durch die Straßen und die Leute denken, ich wäre eine verfrühte Weihnachtswerbung eines Kaufhauses, oder was?“ Eigentlich hatte ich mir noch gar keine richtigen Gedanken darüber gemacht, wie es dort unten überhaupt ablaufen würde. Ich wusste nicht, wohin ich kommen würde, ich hatte keine Schimmer vom Leben auf der Erde. Durch Elsa hatte ich nichts anderes kennengelernt außer den Bergen und der Einöde, und falls ich nicht durch den allergrößten Zufall in den Alpen landen sollte, war ich aufgeschmissen.
Plötzlich klopfte es an der Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat der Schulleiter in den Raum. Wie von selbst verstummte unser Gespräch.
„Hast du schon fertig gepackt, Rebecca?“, fragte er.
„Ja, Herr Rektor, ich bin abreisebereit“, antwortete ich mit zittriger Stimme und schluckte einen dicken Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Das war der Moment, den ich gefürchtet hatte, von dem ich gewünscht hatte, dass er nie kommen würde, dass sie mich einfach vergessen und mit dem Alltag weitermachen würden. Aber natürlich hatten sie mich nicht vergessen!
„Dann lass uns gehen. Das ist noch eine kleine Starthilfe für dich, damit du dich in der neuen Welt ein bisschen schneller zurechtfindest“, sagte er und drückte mir ein Säckchen aus Samt in die Hand. Als ich es öffnete, sah ich, dass sich Geld darin befand.
„Das sind 500 Euro“, erklärte mir der Direktor, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, „das ist die Währung in weiten Teilen Europas, umgerechnet etwa 7000 Sterne wert. Es wird nicht die gesamte Zeit deiner Bewährung reichen, wenn du merkst, dass du damit nicht mehr auskommst, wirst du dir eine Arbeitsstelle suchen müssen. Ich habe dir schon einmal eine Auswahl zusammengestellt. Und das hier wirst du sicherlich auch brauchen.“ Er deute auf einen gefalteten Zettel, den er gut sichtbar in die Seitentasche meines Gepäcks gesteckt hatte, daneben steckte ein Fläschchen, das aussah, als wäre einmal Parfüm darin gewesen. „Das ist für deine Flügel“, erklärte er, „damit sie keiner mehr sehen, fühlen, oder irgendwie sonst bemerken kann, wer und was du bist.“
Aha, Europa. Ein Hinweis.
„Danke, aber wie komme ich auf die Erde?“ Dies interessierte mich wirklich, das Einzige, was mich doch ein klein wenig gespannt auf meine Strafe machte. Natürlich hatte ich Filme darüber gesehen, wie ein Schutzengel, der meistens sein Verbrechen nicht selber verschuldet hatte, auf die Erde geschickt wurde. Zumindest den einen, in dem Leonardi Do Kalabrio die Hauptrolle gespielt hatte. Aber da ich wusste, dass man Himmlywood nicht glauben konnte und wahrscheinlich keiner der Regisseure das alles jemals durchgemacht hatte, nützte das herzlich wenig.
„Gut, dass du fragst, das hätte ich doch beinahe vergessen. Auf die Erde kommst du, indem du die Arme kreuzt, die Hände auf die Oberarme des jeweils anderen Arms legst und molitea andilataria sagst.“
„Du schaffst das schon, Becca, ich zähl auf dich, und schreib mir mal“, rief Amelia mir zum Abschied zu. Sie war uns auf dem Hof gefolgt und stand neben mir, ihre Hände in den Taschen ihres Kleides vergraben.
„Machs gut“, sagte ich und musste schlucken, „mach keinen Unsinn, wenn ich weg bin! Ach, was sag ich da, du wirst keinen Unsinn anstellen, ich kenn dich doch. Pass auf dich auf!“
„Ich werde dich vermissen!“, sagte sie traurig und umarmte mich, ließ dabei unbemerkt ein kleines Päckchen in meine Jackentasche sinken, trat dann ein Stück zurück und winkte.
Schließlich sprach ich die Worte aus, die der Direktor mir mit auf den Weg gegeben hatte, und ehe ich mich versah, verschwammen die vertrauten Gesichter der Engel vor meinen Augen. Es wurde