zu den Gleisen und blicke mich um. Noch immer keine Spur von Ilona.
Doch ich lasse mich nicht verunsichern. Zielstrebig wende ich mich nach rechts und laufe auf den Schienen Richtung Wald. Ich bin mir sicher, dass auch Ilona den Weg eingeschlagen hat.
Und tatsächlich. Keine fünfhundert Meter entfernt sehe ich sie am Boden auf den Gleisen sitzen.
„Ich habe dich schon überall gesucht.“ Sie blickt nicht auf, flüstert nur: „Ich konnte nicht in dem Haus bleiben. Mein Bruder hat sich in sein Zimmer eingesperrt und will einfach nicht mehr rauskommen. Meine Mutter versucht stark zu sein und ich, ich komme mir vor wie eine fünfjährige, weil ich es einfach nicht aushalte, in dem Haus zu bleiben.“ „Ich weiß.“ Vorsichtig setze ich mich neben sie auf die Schiene. Trotz der schrecklichen Umstände, stiehlt sich der Ansatz eines Lächelns auf mein Gesicht. Wenn ich acht Jahre zurückdenke: Zwei kleine Mädchen, eine mit langen blonden Zöpfen, die andere mit wilden dunklen Locken, hocken genau an diesem Platz und malen sich ihr Leben in den buntesten Farben aus. „Weißt du noch, früher als wir mit unseren zehn Jahren hier saßen, haben wir ausgemacht, dass wir unbedingt ins Weltall fliegen und dass wir wie in dem Buch „Fliegender Stern“ einmal mit Indianern auf Büffeljagd gehen wollen!“, schwelge ich in der Erinnerung und schaffe es damit tatsächlich Ilona ein leichtes Lächeln abzuringen. Wir hatten uns vorgenommen, einen Prinzen zu heiraten und zusammen mit unseren Traummännern in einem Schloss zu wohnen. Ich wollte in meiner Freizeit professionell Volleyball spielen und sie wollte reiten gehen. Wie gern wäre ich wieder jung, mit der kindlichen Fantasie, die einen Flügel verleihen konnte.
Ilonas Lachanfall hat sich mittlerweile in Hysterie umgewandelt, Tränen laufen ihr über das Gesicht und das Lachen wird von Schluchzern begleitet.
„Wie soll ich nur mit den anderen umgehen?“, spricht sie ihre Verzweiflung aus. „Denk doch nicht an die anderen. Die können dir mal sowas von am A*** vorbei gehen!“, rate ich ihr.
Doch so war sie. Und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich mich in der Situation nicht dasselbe gefragt hätte. Ich denke in dieser Situation ist es fast egal, wie erwachsen man sich schon fühlt, denn man bleibt immer das Kind.
Stumm sitzen wir da, nur umgeben von den leicht im Wind schaukelnden Bäumen, die langsam ihre Blätter verlieren, ohne Wörter zu wechseln und die Idylle zu zerstören.
Ganz allmählich überträgt sich diese Ruhe auf uns. Die Schluchzer meiner Freundin werden leiser, bis sie schließlich ganz verstummen.
Noch immer scheint die Sonne strahlend auf uns hinab, doch allmählich kühlt die Temperatur drastisch ab.
Ich spüre, wie Ilona zu zittern beginnt, schließlich trägt sie nur ein schwarzes schlichtes Kleid, mit einer schwarzen Strumpfhose und einem schwarzen Bolero.
Auch ich merke, wie der Wind mir unter meine Bluse bläst und mir eine leichte Gänsehaut beschert.
„Lass uns gehen, deine Mama macht sich bestimmt schon Sorgen“, sage ich leise und stehe auf.
Langsam laufen wir den Weg zurück, weg von der Ruhe und zurück in die Realität.
Mittlerweile sind alle Gäste nach Hause gegangen. Auch meine Mutter und meine Schwester sind längst nicht mehr dort.
„Soll ich mit reingehen?“ Ilona schüttelt den Kopf. Ich warte noch, bis sie die Tür aufschließt und nach ihrer Mutter und ihrem Bruder schaut und selbst dann bleibe ich noch ein paar Minuten vor dem Haus stehen, lasse den Tag in meinem Kopf durchlaufen und komme zu dem Entschluss, dass er trotz all dem Grauen und Trübsal nicht komplett schrecklich gewesen war Denn jetzt, nach dieser Beerdigung, war dieser Abschnitt beendet und irgendwann, in Wochen oder Monaten, würde es langsam wieder bergauf gehen. Dann würde Ilona wieder lachen können, ohne danach in Schluchzen auszubrechen.
Mit dieser Hoffnung gehe ich nach Hause, putze mir nicht einmal mehr die Zähne, sondern lege mich angezogen ins Bett und schließe die Augen. Ich bin hundemüde.
Ich sitze im Zug. Es ist bereits dunkel. Ich schaue aus dem Fenster und sehe zu, wie die Lichter der Laternen an mir vorbeiziehen, wie schemenhafte Sträucher von grauen Häusern abgelöst werden. In der Nacht ist alles gleich. Keine Farben und kein lebhaftes Treiben, doch dafür auch keine Unterschiede in Hautfarben, in hübsch und hässlich und richtig und falsch. Ich liebe die Nacht, wenn die Welt geräuschlos ist und man nur das eigene Klopfen des Herzens hören kann. Seelenruhig sitze ich in diesem Zug, ohne eine Ahnung zu haben, wohin er mich bringt.
Das Zugabteil ist komplett ausgestorben.
Ich fühle mich so frei, dass ich am liebsten laut aufgelacht hätte. Ich beschränke mich auf ein breites Lächeln.
Irgendwann wird der Zug langsamer und kommt schließlich zum Stillstand. Ich überlege kurz ob ich hier aussteigen soll? Nein, da bleibe ich lieber in dem wohlig warmen Zug sitzen.
Ich will gerade wieder meine Beine ausstrecken und aus dem Fenster schauen, als ich höre, wie sich die Tür öffnet. Ich fahre herum, um den ungewünschten Ruhestörer zu sehen, und zucke überrascht zurück.
In der Eingangstür steht er. Der unverschämt hübsche Mann mit den Rehaugen und den langen Wimpern.
Wieso taucht er schon wieder in meinem Traum auf? Und vor allem, wieso bringt er mich so durcheinander?
Ich starre ihn an. Auch er ist stehen geblieben und schaut mir ins Gesicht. Keiner wagt es, sich zu bewegen. Ich frage mich, ob er wohl echt ist, ob er irgendwo auf dieser Welt lebt oder tatsächlich nur eine Traumfigur von mir ist.
Ganz langsam kommt er auf mich zu. Ich betrachte ihn genauer: Er trägt ein blaues Jeanshemd über einem schlichten weißen T-Shirt. Dazu eine beige Hose und Turnschuhe. Meiner Schätzung nach müsste er gute 1.90 Meter groß sein. Seine Haare sind leicht gelockt und verstrubbelt, widerspenstig fallen sie ihm ins Gesicht, ohne jedoch seine schönen großen Augen zu verdecken. Endlich steht er vor mir und öffnet den Mund.
Und dann ist es vorbei. Über mir sehe ich meine kahle Zimmerdecke, die kalt und emotionslos auf mich hinab stiert. Mein Wecker durchdringt die Stille, schrill und laut dröhnt er in meinen Ohren.
Ich will zurück, jammere ich innerlich, zurück in diesen Traum und weg von hier. Verbittert schlage ich mit der flachen Hand auf meinen Wecker, um ihn zum Schweigen zu bringen und frage mich, wie seine Stimme wohl geklungen hätte.
Es ist Montag, Zeit wieder in die Schule zu gehen. Ich frage mich, wie ich den Sonntag denn verbracht habe. Vage kommt mir ein Nachmittag in meinem Zimmer in den Sinn, halbwach und filmeschauend. Doch sicher bin ich mir nicht mehr. Es könnte auch sein, dass ich ihn komplett verschlafen habe.
Mit schweren Beinen quäle ich mich aus dem Bett, schnappe mir irgendeine Hose und ein T-Shirt und schlurfe ins Bad.
Anziehen, frühstücken, Zähne putzen - wie eine Schlafwandlerin bewege ich mich durch das Haus, auf die Straße, zum Bus und in die Schule. Meine Gedanken sind in dem Traum geblieben, fahren weiter und weiter mit dem Zug, ohne auszusteigen, ohne anzuhalten, ohne Sorgen!
Da entdecke ich Ilona an der Straße stehen. Blass und übernächtigt steht sie an der Seite ihres Bruders, unschlüssig, ob sie das Schulgebäude betreten sollen oder nicht.
Ich laufe zu den beiden hin, hänge mich unter und ziehe sie mit. Ich weiß zwar nicht, ob das die richtige Methode ist, aber ich halte mich an das Motto: Augen zu und durch!
Die beiden lassen es geschehen, stolpern neben mir her, sichtbar froh, sich an jemanden festhalten zu können. Im Vorraum klopft Ilona ihrem Bruder auf die Schulter, spricht ihm kurz Mut zu, und sieht zu, wie er steif die Treppe hinaufsteigt. „Er wird es schon schaffen“, muntere ich sie auf. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt gehört hat, aber sie wendet ihren Blick ab, beißt die Zähne zusammen und betritt mit mir unser eigenes Klassenzimmer. Ich weiß nicht, was sie oder ich erwartet haben, aber keine unserer Vorstellung wird bestätigt.
Eigentlich wird gar nichts bestätigt, denn unsere Mitschüler nehmen keine Notiz von uns, einzig ein paar scheue Blicke flitzen ab und an zu uns hinüber. Unsere anderen Freunde