Georges Simenon

Maigret macht Ferien


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       Der 28. Fall

      Georges Simenon

      Maigret macht Ferien

      Roman

      Aus dem Französischen von Jean Raimond und Bärbel Brands

      Kampa

      1

      Die holprige Pflasterstraße war so schmal wie alle Straßen in dieser Gegend, dem alten Viertel von Les Sables-d’Olonne. Von den Gehsteigen musste man hinuntertreten, sobald einem jemand entgegenkam. Das stattliche zweiflügelige Portal an der Ecke war von einem satten Dunkelgrün, das in der Sonne schimmerte, und mit zwei blankpolierten Messingklopfern versehen, wie man sie nur noch bei Landnotaren oder Klöstern vorfindet.

      Davor parkten zwei große glänzende Wagen, die einen ähnlichen Eindruck von Makellosigkeit und Komfort hinterließen. Maigret kannte sie, sie gehörten den Chirurgen.

      »Ich hätte auch Chirurg werden können«, dachte er, »und so einen Wagen besitzen.«

      Vermutlich nicht gerade Chirurg, aber er wäre tatsächlich beinahe Arzt geworden. Er hatte ein Studium der Medizin begonnen und sehnte sich manchmal danach zurück. Wäre sein Vater nicht drei Jahre zu früh gestorben …

      Bevor er auf das Tor zuging, zog er die Uhr aus der Tasche; es war drei. Im selben Augenblick ertönte dünn die Glocke der kleinen Kapelle und gleich darauf jene der Kirche Notre-Dame, deren voller Klang über die Dächer der kleinen Häuser der Stadt hinweggetragen wurde.

      Er seufzte und drückte den Klingelknopf. Er seufzte, weil es ihm albern erschien, jeden Tag zur gleichen Zeit die Uhr aus der Tasche zu ziehen. Er seufzte, weil es ihm nicht weniger albern erschien, immer um Punkt drei zu kommen, als hinge das Schicksal der Welt davon ab. Und er seufzte, weil er sich nun, wie auch an den Tagen zuvor, während das Tor mit seiner gut geölten Mechanik geräuschlos aufsprang, in einen anderen Mann verwandeln würde.

      Eigentlich nicht einmal in einen anderen Mann. Seine Schultern blieben dieselben wuchtigen Schultern des Kommissar Maigret, und auch sein Körper verlor nicht an Gewicht.

      Aber kaum hatte er den hellen, weitläufigen Flur betreten, fühlte er sich wie ein Kind; wie der Junge, der in seinem Heimatdorf im Allier noch vor Sonnenaufgang, mit vor Kälte aufgesprungenen Händen und geröteter Nase, die Luft angehalten hatte und auf Zehenspitzen in die Sakristei geschlichen war, um sein Ministrantengewand anzulegen.

      Die Atmosphäre hier war ganz ähnlich. Kein Weihrauch, dafür ein süßlicher Arzneigeruch, jedoch nicht der abscheuliche Gestank der Krankenhäuser. Ein unbestimmer Duft, feiner, erhabener. Man ging über einen unvergleichlich weichen Linoleumboden. Die mit Ölfarbe gestrichenen Wände waren glatter und ihr Weiß satter als an irgendeinem anderen Ort. Selbst diese laue Luft, diese tiefe Stille fand man sonst nur in einem Kloster.

      Er wandte sich wie aufgezogen nach rechts, verbeugte sich zum Gruß wie der Ministrant vor dem Altar und murmelte:

      »Guten Tag, Schwester.«

      In einem blitzeblanken gläsernen Büro mit eingelassenem Schalter saß eine Schwester mit Haube vor einem Register, lächelte und sagte:

      »Guten Tag, Monsieur 6. Ich frage gleich nach, ob Sie hinaufgehen dürfen. Unserer lieben Patientin geht es zunehmend besser …«

      Das war Schwester Aurélie. Im gewöhnlichen Leben hätte sie vermutlich ausgesehen wie eine fünfzigjährige Frau, aber unter der weißen Haube erschien ihr Gesicht alterslos und glatt wie ein Karamellbonbon.

      »Hallo …«, sagte sie leise. »Sind Sie es, Schwester Marie des Anges? Monsieur 6 ist hier …«

      Maigret ärgerte sich nicht, er wurde nicht einmal ungeduldig. Weiß Gott, wozu dieses wiederkehrende Zeremoniell nötig war. Man erwartete ihn wie immer. Man wusste, dass er Punkt drei kommen würde, und den Weg in den ersten Stock fand er auch allein.

      Aber nein, sie hielten an ihren Gewohnheiten fest. Schwester Aurélie lächelte ihm zu, und er blickte zur Treppe mit dem roten Läufer, auf der jeden Moment Schwester Marie des Anges erscheinen würde.

      Auch sie lächelte, die Hände in den weiten Ärmeln ihrer grauen Tracht.

      »Wenn Sie mir folgen wollen, Monsieur 6?«

      Gleich würde sie ihm zuflüstern:

      »Unserer lieben Patientin geht es zunehmend besser …«

      Als wäre das eine überwältigende Neuigkeit oder sogar ein Geheimnis.

      Er ging auf Zehenspitzen und wäre womöglich rot geworden, wenn unter seinem Gewicht eine Stufe geknarzt hätte. Beim Sprechen wandte er sich ab, weil er um seinen Calvados-Atem fürchtete; nach dem Essen genehmigte er sich immer ein Gläschen.

      Breite spindelförmige Sonnenstrahlen fielen schräg in den Gang, wie auf einem Heiligenbild. Hin und wieder kam ihm ein Rollbett mit einer Patientin entgegen, die zum Operationssaal geschoben wurde und von der er nur den starren Blick in Erinnerung behielt.

      Und wie zufällig stand Schwester Aldegonde wieder einmal in der Tür des großen Saals mit den zwanzig Betten, als hätte sie dort etwas zu tun, nur um ihn im Vorübergehen mit einem ergebenen Lächeln zu grüßen:

      »Guten Tag, Monsieur 6 …«

      Ein paar Schritte weiter stieß Schwester Marie des Anges die Tür mit der Nummer 6 auf und trat zur Seite.

      Aufrecht im Bett sitzend, mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem etwas blassen Gesicht, blickte ihm eine Frau entgegen. Es war Madame Maigret. Immer schien sie sagen zu wollen:

      »Mein armer Maigret, wie hast du dich verändert …«

      Warum ging er noch immer auf Zehenspitzen, sprach mit leiser Stimme, die gar nicht zu ihm passte, und bewegte sich so umsichtig wie in einem Porzellanladen? Er küsste sie auf die Stirn, sah die Orangen und die Kekse auf dem Nachttisch und auf der Bettdecke das Strickzeug, das ihn augenblicklich in Wut versetzte.

      »Schon wieder?«

      »Schwester Marie des Anges hat mir erlaubt, ein wenig zu stricken …«

      Ein weiteres Ritual war, der alten Dame im Bett nebenan Guten Tag zu sagen. Madame Maigret hatte kein Einzelzimmer.

      »Guten Tag, Mademoiselle Rinquet.«

      Sie sah ihn mit ihren kleinen lebhaften und kalten Augen an. Seine Besuche vergrätzten sie. Während er da war, behielt ihr zerknittertes Gesicht einen mürrischen Ausdruck.

      »Setz dich, mein armer Maigret …«

      Sie war die Kranke. Und sie hatte man dringend operieren müssen, drei Tage nachdem sie in Les Sables eingetroffen waren, um ihre Ferien dort zu verbringen. Und nun war er der »arme« Maigret.

      Es war viel zu heiß. Und dennoch hätte er um keinen Preis das Jackett ausgezogen.

      Schwester Marie des Anges trat von Zeit zu Zeit ein, um ein Glas Wasser zu verrücken, ein Thermometer zu bringen oder irgendetwas anderes, weiß Gott warum.

      Jedes Mal flüsterte sie:

      »Verzeihung …«, und warf einen Blick auf Maigret.

      Madame Maigret hingegen stellte ihm jeden Tag die gleiche Frage:

      »Was hast du gegessen?«

      Die Frage war durchaus nicht abwegig. Was hätte er denn anderes tun können als essen und trinken? Und in der Tat hatte er in seinem ganzen Leben noch nie so viel getrunken.

      Am Tag nach der Operation hatte der Chirurg gesagt:

      »Nur eine halbe Stunde!«

      Nun war es zur Regel geworden. Er blieb eine halbe Stunde und hatte nichts zu sagen. Allein die Anwesenheit der zornigen alten Jungfer hinderte ihn daran, den Mund aufzumachen. Was erzählte er seiner Frau eigentlich sonst, wenn sie allein waren? Die Frage drängte sich ihm auf. Nichts, im Grunde. Warum also fehlte sie