Georges Simenon

Maigret macht Ferien


Скачать книгу

eine ganze Weile nichts als Rot.

      Nun denn! Maigret hatte seinen Mittagsschlaf beendet. Er faltete die Zeitung zusammen, warf das Jackett über die Schulter, zündete die Pfeife an und ging hinunter.

      »Bis nachher, Herr Kommissar …«

      Ein Gruß folgt auf den nächsten wie Segenssprüche, den lieben langen Tag. Alle waren sie freundlich und lächelten. Es ging ihm allmählich auf die Nerven, und er wurde mürrisch. Ein tüchtiger Platzregen, ein Streit mit jemandem, der darauf aus war, das hätte ihn erleichtert.

      Das grüne Tor, der Glockenschlag um drei. Er brachte es nicht einmal fertig, die Uhr stecken zu lassen!

      »Guten Tag, Schwester …«

      Er hätte ebenso gut noch einen Knicks machen können. Auf zur Nächsten, Schwester Marie des Anges, die ihn bereits auf der Treppe erwartete.

      »Guten Tag, Schwester …«

      Und Monsieur 6 trat auf Zehenspitzen in das Zimmer von Madame Maigret.

      »Wie geht es dir?«

      Sie bemühte sich zu lächeln.

      »Du hättest mir keine Orangen mitbringen müssen. Ich habe noch welche …«

      »Du kennst doch sicher alle Patienten hier …«

      Warum gab sie ihm ein Zeichen? Er drehte sich zu dem Bett von Mademoiselle Rinquet. Die alte Dame hatte ihren Kopf im Kissen vergraben und lag zur Wand gekehrt.

      Er flüsterte:

      »Geht es ihr nicht gut?«

      »Es geht nicht um sie … Pst … Komm ein wenig näher.«

      Eine Tuschelei wie in einem Mädchenpensionat.

      »Heute Nacht ist jemand gestorben …«

      Sie achtete auf Mademoiselle Rinquet, deren Bettdecke sich bewegte.

      »Es war grauenhaft, man konnte ihre Schreie bis hierher hören. Und dann ist die Familie gekommen. Es hat über drei Stunden gedauert … Ein einziges Hin und Her. Wir haben uns fürchterlich erschreckt … Vor allem, als der Pfarrer zur Letzten Ölung kam. Sie hatten zwar das Licht im Flur gelöscht, aber alle wussten Bescheid …«

      Fast gehaucht fügte Madame Maigret hinzu, wobei sie auf ihre Zimmernachbarin deutete:

      »Sie glaubt, sie sei die Nächste …«

      Maigret wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand da, schwerfällig und ungelenk, um ihn herum eine fremde Welt.

      »Es war eine junge Frau. Eine sehr hübsche, heißt es. Zimmer 15 …«

      Sie fragte sich, warum er seine dichten Augenbrauen hochzog und unwillkürlich eine Pfeife aus der Tasche zog, die er dann aber doch nicht stopfte.

      »Bist du sicher, dass es Zimmer 15 war?«

      »Aber ja … Warum denn?«

      »Einfach so.«

      Er setzte sich. Es hatte keinen Sinn, Madame Maigret von dem Zettel zu erzählen, sie würde sich sofort aufregen.

      »Was hast du gegessen?«

      Mademoiselle Rinquet hatte angefangen zu weinen. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, nur die spärlichen Haare auf dem Kopfkissen, aber die Decke bewegte sich rhythmisch, zuckend.

      »Du solltest nicht allzu lang bleiben …«

      Ganz offensichtlich hatte er mit seiner Rossnatur in diesem Haus der Kranken und Ordensschwestern, die auf leisen Sohlen herumhuschten, nichts verloren.

      Bevor er ging, fragte er:

      »Weißt du, wie sie hieß?«

      »Wer?«

      »Die junge Frau von Zimmer 15.«

      »Hélène Godreau.«

      Jetzt erst bemerkte er, dass Schwester Marie des Anges gerötete Augen hatte und ihm böse zu sein schien. Hatte sie ihm den Zettel zugesteckt?

      Er fühlte sich außerstande, sie danach zu fragen. Alles in diesem Haus unterschied sich so entschieden von der Umgebung, in der er sich sonst aufhielt, den staubigen Fluren im Polizeipräsidium, den Leuten, denen er in seinem Büro einen Platz anwies, ihm gegenüber, und denen er lange in die Augen sah, bevor er ihnen mit seinen unerbittlichen Fragen zusetzte.

      Außerdem ging ihn das gar nichts an. Eine junge Frau war gestorben. Na und? Jemand hatte ihm einen Zettel in die Tasche gesteckt, mit einer Nachricht, die nichts besagte …

      Im Grunde verbrämte er seine Tage damit, dass er im Kreis lief wie ein Zirkuspferd. Genau jetzt war es zum Beispiel höchste Zeit für die Brasserie du Remblai. Als hätte er dort eine wichtige Verabredung.

      Der Saal war geräumig und hell. An den Tischen vor den breiten Fenstern, die auf den Strand und das Meer gingen, saßen Gäste, die er mit keinem Blick würdigte; Unbekannte, Sommerfrischler, die nur gelegentlich hierherkamen und auch keine Stammplätze hatten.

      Im hinteren Bereich, in einer großen Ecke hinter dem Billardtisch, war es ganz anders: An zwei Tischen saßen dort schweigsame Männer mit ernsthafter Miene, deren kleinste Gesten den aufmerksamen Kellner in Bewegung setzten.

      Das waren die Honoratioren, die Reichen und Alten. Einige hatten noch erlebt, wie man die Brasserie erbaut hatte, und manche hatten Les Sables schon gekannt, bevor der Remblai errichtet worden war.

      Jeden Nachmittag fanden sie sich hier ein, um Bridge zu spielen. Jeden Nachmittag gaben sie sich die Hand, schweigend oder mit immer denselben wenigen Worten, ein Ritual.

      Sie hatten sich an die Anwesenheit von Maigret gewöhnt, der nicht mitspielte, sondern rittlings auf einem Stuhl saß und zusah, wobei er seine Pfeife rauchte und Weißwein trank.

      Die meisten hoben die Hand zum Gruß. Nur der örtliche Polizeikommissar, Monsieur Mansuy, der ihn jenen Herren vorgestellt hatte, stand auf, um ihm die Hand zu geben.

      »Und Ihrer Frau geht es allmählich besser?«

      »Ja.«

      Die Antwort erfolgte mechanisch, und er setzte beiläufig hinzu:

      »Heute Nacht ist in der Klinik eine junge Frau gestorben.«

      Er hatte leise gesprochen, aber selbst mit halber Kraft tönte seine Stimme noch voluminös, umso mehr, als an beiden Tischen Stille herrschte.

      An der Reaktion der Männer merkte er, dass er einen Fehler begangen hatte. Zudem deutete ihm der Polizeikommissar an, nicht weiter darüber zu sprechen.

      Obwohl er dem Spiel seit sechs Tagen zusah, begriff er die Regeln noch immer nicht. An diesem Tag begnügte er sich damit, die Gesichter zu beobachten.

      Monsieur Lourceau, der Reeder, war uralt, aber groß und noch immer kräftig, mit hochrotem Gesicht unter den weißen Haaren. Er konnte von allen am besten Bridge spielen, und wenn sein Partner einen Fehler machte, warf er ihm einen nicht eben ermutigenden Blick zu.

      Depaty, der Grundstücksmakler, der sich vor allem mit Villen und Siedlungen befasste, war lebhafter, mit verschmitzten Augen, trotz seiner siebzig Jahre.

      Es gab noch einen Bauunternehmer, einen Richter, einen Schiffbauer und den stellvertretenden Bürgermeister.

      Der Jüngste musste zwischen fünfundvierzig und fünfzig sein. Gerade beendete er eine Partie. Er war von schmaler Gestalt, ausdrucksstark und entschlossen, mit lebhaften Augen und glänzend braunen Haaren. Seine Kleidung schien äußerst sorgfältig gewählt und von erlesener Eleganz.

      Als er seine letzte Karte gespielt hatte, erhob er sich wie üblich und ging zur Telefonkabine. Maigret sah auf die Wanduhr. Es war halb fünf. Jeden Tag um halb fünf telefonierte er.

      Kommissar Mansuy, der für die nächste Partie mit seinem Nachbarn den Platz tauschte, beugte sich zu seinem Kollegen hinüber und flüsterte:

      »Die Tote