Wolfgang Steinig

Orthografie


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insbesondere in den ersten Schuljahren, denn hier wird das Fundament für ihre Entwicklung gelegt. Wenn Kinder im Anfangsunterricht keinen Zugang zu den grundlegenden Prinzipien unserer Rechtschreibung bekommen, wird es schwer sein, diesen Mangel später auszugleichen. Denn die orthografischen Kompetenzen bleiben über die gesamte Schulzeit und darüber hinaus überaus stabil (Schneider 2008).

      Wenn man den sozial stigmatisierenden Effekt der Rechtschreibung vermindern möchte, sollte man nicht die Leistungsziele verringern, sondern – ganz im Gegenteil – diesem Arbeitsbereich im Deutschunterricht wieder eine höhere Geltung verschaffen: Nicht nur durch einen höheren Stundenanteil und anspruchsvollere Ziele in den Lehrplänen, sondern auch durch eine verbesserte Didaktik und Methodik, die vor allem Schülerinnen und Schülern aus unteren sozialen Milieus helfen, ihre Rechtschreibkompetenz zu steigern.

      Ein höheres Niveau unseres Rechtschreibunterrichts lässt sich durch eine Veränderung von übenden zu erklärenden Anteilen erreichen. In einer empirischen Studie von Hofmann (2015) hat sich nämlich gezeigt, dass in einem Unterricht, in dem viel geübt, aber wenig erklärt wird, der Anteil schwacher Rechtschreiber wesentlich höher ist als in einem Unterricht, der stärker auf Erklärungen setzt. Schülerinnen und Schüler wollen offenbar verstehen, warum sie auf eine bestimmte Weise Wörter schreiben müssen. Blindes Üben, ohne den Sinn und Zweck der Übungen zu erkennen, verstärkt nur den Eindruck, dass die Rechtschreibung auf Regeln beruht, die man nicht durchschauen kann. Diesen Eindruck darf ein guter Rechtschreibunterricht nicht entstehen lassen. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Anrecht darauf zu erfahren, wie das System Rechtschreibung funktioniert. Und zwar von Anfang an!

      Wenn Kinder die Rechtschreibung von Anfang an als ein sinnvoll strukturiertes System kennenlernen, bei dem sich die weitaus meisten Schreibungen zuverlässig erschließen lassen, auch wenn man sie zuvor noch nie geschrieben hat, dann ist die Chance groß, dass sie sich zu orthografisch kompetenten Schreibern entwickeln.

      1.3 Die deutsche Schrift – eine Alphabetschrift

      Die Alphabetschrift, die erstmals von den Phöniziern zwischen dem 11. und 5. Jahrhundert v.Chr. entwickelt wurde, ist eine geniale Erfindung: Eigentlich muss ein Kind nur 26 Zeichen erlernen, um jedes erdenkliche Wort im Deutschen schreiben zu können; für die Großschreibung kommen, als Allographen der Kleinbuchstaben, noch 26 Buchstaben hinzu. Im Chinesischen benötigt man dagegen 3000-5000 Zeichen, nur um im schriftlichen Alltag bestehen zu können. Alphabetschriften sind phonographische Schriften, da ihre Buchstaben die Phoneme einer Sprache visuell repräsentieren. Wohlgemerkt: die Phoneme, nicht die Laute! Denn die Laute einer Sprache existieren in unterschiedlichen Varianten, den sogenannten Allophonen, die aber nicht bedeutungsunterscheidend sind.

      Dazu ein Beispiel: Wenn Sie einmal die Wörter Kinn und Kuh nacheinander sprechen und anschließend nur den jeweils ersten Laut artikulieren, werden Sie feststellen, dass die beiden k-Laute unterschiedlich klingen: Der k-Laut in Kinn ist deutlich heller als der in Kuh, die Zunge liegt anders im Mund und die Lippen sind anders geformt. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Laute, die man als Phone bezeichnet. Dieser Unterschied hängt mit den nachfolgenden Vokalen zusammen, die die Aussprache beeinflussen.1 In der Schrift müssen diese phonetischen Varianten aber nicht unterschieden werden, da sie keine bedeutungsunterscheidende Funktion haben. Das /k/, das zwischen zwei Schrägstrichen notiert wird, ist ein Phonem, in welcher lautlichen Variante auch immer. Denn wenn man es mit anderen Phonemen wie /f/, /h/, /m/, /l/, /r/ oder /t/ in der gleichen lautlichen Umgebung kontrastiert, erhält man Minimalpaare wie Kasten, fasten, hasten, Masten, Lasten, rasten oder Tasten. Mit einer derartigen Minimalpaaranalyse lässt sich feststellen, ob Phone eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben und deshalb als Phoneme bezeichnet werden. Meint man dagegen Phone – wie in unserem Beispiel die unterschiedlichen k-Laute in Kinn und Kuh –, setzt man sie in eckige Klammern: [k].

      Grapheme hingegen, die in der Regel aus einem Buchstaben bestehen, setzt man in spitze Klammern: <k>. Grapheme können aber auch aus zwei oder drei Buchstaben bestehen wie beim <ch> oder <sch>. Für das Phonem /ʃ/ steht im Deutschen das Graphem <sch> (Schule), im Türkischen ein <ş> (şiş), im Englischen ein <sh> (ship), im Ungarischen ein <s> (sós) und im Kroatischen ein <š> (škola).

      Das Phonem /r/ ist ein besonders interessanter Fall, da es im deutschsprachigen Raum höchst unterschiedlich artikuliert wird. Im Bairischen wird es durch rasche Bewegungen der Zungenspitze gebildet und in der Internationalen Lautschrift mit [r] notiert, im übrigen Deutschland meist als ein stimmhafter, am Gaumenzäpfchen gebildeter Reibelaut, der als [ʁ] transkribiert wird, oder als [R], das mit dem Zäpfchen ‚gerollt‘ wird. Diese Unterschiede haben aber keinen Einfluss auf die Bedeutung von Wörtern. Ein Rad bleibt immer ein Rad, ganz gleich, wie das Phonem /r/ ausgesprochen wird.

      In Norddeutschland wird das /r/ postvokalisch nach /a/ meist gar nicht realisiert, beispielsweise in Garten, aber dennoch schreiben auch die Norddeutschen Garten mit <r>, da die Schreibung keine Rücksicht auf regionale Varianten nehmen kann, sondern sich an der Standardaussprache orientiert und jedem Phonem systematisch bestimmte Grapheme zuordnet. Anstatt von einer Laut-Buchstaben-Beziehung sollte man deshalb, fachlich korrekter, von einer Phonem-Graphem-Korrespondenz sprechen.

      Man möchte annehmen, dass es für Schreiber wie für Leser einer Sprache das Beste wäre, wenn immer genau einem Phonem ein Graphem entsprechen würde, so wie das weitgehend im Spanischen, Finnischen oder im Türkischen geregelt ist. Die erst 1928 neu entwickelte türkische Schrift ist tatsächlich einfach zu erlernen und problemlos zu lesen. In alten Schriftsystemen wie dem Englischen oder dem Französischen ist die Phonem-Graphem-Korrespondenz hingegen kompliziert. Das englische Wort enough mit sechs Graphemen korrespondiert kaum mit den vier Phonemen /inaf/. Und das französische queue mit fünf Graphemen wird mit nur zwei Phonemen als /kö/ gesprochen. Der Grund für die schwer zu erlernende englische und französische Orthografie liegt in ihrem Alter. Schreibungen sind wesentlich konservativer als die gesprochene Sprache, die sich rascher wandelt. In der Schreibung werden ältere Lautungen konserviert. Englische Wörter wie knob, knot oder knee werden am Anfang immer noch mit einem <k> geschrieben, obwohl initial längst kein /k/ mehr gesprochen wird, während im Deutschen in Knopf, Knoten und Knie das /k/ im Mündlichen erhalten blieb.

      Das deutsche Schriftsystem beruht nicht, wie das spanische, weitgehend auch das türkische, auf einer 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz, aber es ist auch nicht so undurchsichtig wie das englische oder französische. Spanische und türkische Kinder können deshalb relativ problemlos mit einer Anlauttabelle das Schreiben erlernen, während englische oder französische Anlauttabellen nicht funktionieren würden. Für das Deutsche ist dieses häufig eingesetzte Hilfsmittel zum Lesen- und Schreibenlernen allenfalls für den Einstieg geeignet, um das Prinzip der Alphabetschrift zu veranschaulichen. Ein längerer Gebrauch wäre aber nicht zielführend, da Anlauttabellen eine 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz suggerieren, die es im Deutschen in eindeutiger Form nur bei wenigen Wörtern gibt. Stattdessen müssen zwei Alternativen bedacht werden:

      1 für ein Phonem können mehrere Grapheme stehen

      2 ein Graphem kann mit mehreren Phonemen korrespondieren

      Im ersten Fall liegt das Problem beim Schreiber, der seine Mündlichkeit in Schrift umsetzen und dazu das entsprechende Graphem aus einer Reihe von Möglichkeiten auswählen muss. Im zweiten Fall hat der Leser das Problem, von einem Graphem auf die zutreffende Aussprache von mehreren möglichen zu schließen.

      Für einen Schreiber, der beispielsweise für das Phonem /k/ ein entsprechendes Graphem finden muss, ist eine Anlauttabelle von geringem Nutzen, da sie ihm nur das <k> als Klein- und Großbuchstaben anbietet. Für Wörter wie Sack oder Wachs muss aber eine Kombination von zwei Buchstaben, die Digraphen <ck> und <ch>, gewählt werden, für das Wort Hexe benötigt man das Graphem <x> für die Phoneme /k/ + /s/ und in Wörtern fremder Herkunft wie Club oder Clique stehen der Monograph <c> und der Digraph <qu> für das Phonem /k/.