Ally Klein

Der Wal


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sie in die weite Dunkelheit, schaute, ohne zu blinzeln, stand wie errichtet neben ihm, einen Schritt weg vom Abgrund.

      Jedes Mal, wenn ihre Haare aus dem Gesicht flogen, erhaschten seine Augen ihre Züge. Ein Profil wie jedes andere, er hätte sie kennen können, hätte sie in dieser Ortschaft jeden Tag zufällig passieren können, und sie wäre ihm wahrscheinlich nicht aufgefallen. Sie starrte in die Ferne, heftete ihren Blick entschlossen auf etwas. Er versuchte, den Weg ihrer Pupillen nachzuverfolgen, sah ebenfalls in die Weiten der Nacht, aber da gab es keinen Punkt, den sie hätte fixieren können. Mehrmals blickte er auf sie, seine Augen wanderten zum Tal, wanderten zurück zu ihr, aber ratlos stand er daneben. Sein Mund öffnete sich, etwas Kurzes, an sie Gerichtetes entschwand ihm, aber der Wind hatte es stumm gepfiffen. Er versuchte es nochmal. Seine Kehle presste Laute hervor, die die Zunge und die Lippen mit Bedeutung versahen, aber erneut war jedes Wort im Wind untergegangen. Diesmal spannte er seinen gesamten Körper an, holte tief Luft, die Stimme stieg aus seinem Inneren, aus dem Bauch in den Rachen, bahnte sich ihren Weg durch die Mundhöhle, die Zunge streifte sachte den Gaumen, streifte die Zahnreihen, die Lippen trafen sich und fuhren auseinander, taten alles, um dem, was da herauskam, einen Sinn zu geben, um die Buchstaben unterscheidbar zu machen, die hörbaren, die stummen, die sich zu einem Guss, einem Satz verschmolzen hatten, zu einer sinntragenden Masse hatten sich die einzelnen Wörter geschweißt, aus Wörtern wurden Worte – aber nichts war von alledem zu hören, immer noch das unartikulierte Wiehern des Windes, das sich durch den hohlen Abgrund jagte.

      Der Himmel auf Augenhöhe, färbte er sich in ein düsteres Grau, und langsam ließen sich die Hügelspitzen erkennen.

      Der Wind blies Saul die Haare aus dem Gesicht. Er taumelte erschrocken und stützte sich mit einem Schritt nach hinten. Kaum hatte er sich bewegt, drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, drehte ihn wie ein Greifvogel zu ihm, nur den Kopf am unbewegten Körper, und heftete ihre Augen auf ihn. Für eine einzige Sekunde weiteten sich ihre Pupillen und schrumpften sogleich auf einen Punkt zurück. Saul stand wie erschlagen da, nichts regte sich an ihm, der Wind pfiff durch seine Ohren, pfiff durch seine Nase, pfiff durch seinen Körper. Sie starrten sich an, aber weder er noch sie rührte sich. Sauls Mund brach diesen Stillstand. Die Laute, bedeutungsbeladen, drückten sich wieder durch seinen Rachen, wie Knollen würgten sie sich hoch und, durch die Lippen geformt, gewannen sie erneut an Gehalt. Er sprach, aber auch diesmal hatte der Wind jeden einzelnen Ton in seinem Heulen erstickt. Nur Saul wusste um den Inhalt dieser Laute, nichts war jedoch zu ihr durchgekommen. Sie starrte immer noch auf ihn, ohne zu blinzeln. Saul rappelte sich auf, hartnäckig wiederholte er seinen Satz, der jedes Mal vom Wüten des Windes zunichtegemacht wurde. Er ballte seine Fäuste und brüllte ihn nochmal, schrie ihn gegen den Wind, der ihn immer wieder auslöschte, Saul wiederholte den gleichen Satz, wiederholte ihn, bis er seinen Sinn verlor, wiederholte ihn, bis jedes einzelne Wort zu einer Ansammlung an Lauten verkam, er wiederholte sie trotzdem, bis zur Verzweiflung brüllte er gegen diesen Lärm, aber nichts erklang, nichts bahnte sich seinen Weg zu ihr. Saul riss seine Augen auf und, statt einen neuen Versuch zu wagen, entließ er diesmal einen Schrei, einen wortlosen, verwahrlosten Schrei. Mit einem Mal legte sich der Wind, von einem Moment auf den anderen brach das Tosen ab, schlagartig fielen die flatternden Haarenden auf die Schultern, die unbändige Kleidung hörte auf, sich vom Körper losreißen zu wollen. Nur der Schrei durchschnitt die Luft. Diese vom Körper losgerissene Stimme schmetterte sich durch die Leere, echote durch das Tal, hallte zurück und drang in Sauls Ohren – er erschrak. Er fuhr zusammen, klappte den Mund zu, und sein Blick sprang sofort zu ihr. In Angst, bei ihr das gleiche Entsetzen hervorgerufen zu haben, richtete er besorgt seine Augen auf sie, nur um festzustellen, dass sich nichts in ihrem Ausdruck verändert hatte. Von seinem Ausbruch unbeeindruckt, sah sie ihn an, stierte teilnahmslos in seine Augen, dann, endlich, wandte sich ihr Blick von ihm ab und verlagerte sich auf den Wald hinter ihm.

      Statt dem finsteren Wall waren schwarzgrüne, hochgewachsene Fichten in Erscheinung getreten, aber nur in den vorderen Reihen, während im Waldinneren weiterhin surrende Dunkelheit lauerte. Saul folgte ihrem Blick. Kaum hatte er ihn auf den Wald geheftet, sah er sie schon an sich vorbeiziehen. Sie passierte ihn geräuschlos, wie ein Gespenst, und peilte das undurchdringbare Baumwerk an. Sie bewegte sich geschickt durch den Irrgarten herumliegender Zweige voran und, in der Entfernung zu einer winzigen Figur geworden, verschwand sie bald hinter den groben Stämmen.

      Sie blieb stehen, sobald sie es in ihrer Nähe knacken gehört hatte, wandte sich um und sah Saul wortlos ins Gesicht. Zwischen die Einkerbungen ihrer Brauen hatte sich die Dunkelheit gebettet. Zwischen die Lippen hatte sie sich geschlichen, unter die Augen, hatte die feinen Zuglinien zu schwarzen Flecken ausgedehnt. Jede Einbuchtung und Furche füllte sie mit ihrer dunklen Materie. Die Nacht klammerte sich an jede Gelegenheit, um sich zu erhalten, bevor sie sich vom Tag fortjagen ließ.

      Sie setzte ihren Gang erst dann fort, nachdem Saul mehrere Schritte von ihr weggetreten war, sich um mehrere Meter von ihr entfernt hatte, sodass der Abstand zwischen ihnen so groß war, dass sie füreinander keine Menschengröße mehr darstellten. So liefen sie durch den Wald, während das Morgenlicht sich verhalten durch die Wipfel fallen ließ. Je länger sie liefen, desto tiefer versuchte es hindurchzudringen, aber gelangte nicht weit über die Spitzen hinaus. Jeder Ast, schwer herunterhängend, schirmte den Anbruch des Tages ab, beherbergte die Nacht, die dort zumindest noch die nächsten paar Stunden walten durfte, nur noch in den kleinsten Verstecken des Zweigwerks, um dann Stunden später mit gesammelter Kraft wieder den Tag in Gewahrsam zu nehmen.

      Sie stampften über wuchernden Efeu – Blätter wie deformierte Hände, zusammengeschmolzene Fingerglieder, schmarotzten sich aus dem Boden durch die gesamte Landschaft. Seine Sprossachsen krochen über Baumstämme, verholzten und rissen sie langsam in den lichtlosen Tod. Unter den Fußsohlen knacksten die abgefallenen, ausgetrockneten Zweige, wie Baumgebeine. Saul lief von Stamm zu Stamm, folgte jedem ihrer Schritte, bis der Wald abrupt aufhörte.

      Mitten im Morgen stand sie unter dem kahlen, weißen Himmel. Mitten im Morgen holte Saul sie ein, die mit dem Ende der Dunkelheit stehen blieb. Er trat aus dem Wald, sie standen nebeneinander da.

      4.

      Der Löffel schlug gegen das feine Porzellan, als sie den Zucker in ihrem Kaffee auflöste. Sie rührte, obwohl die kleinen Kristalle sich längst verflüssigt haben mussten, rührte die Temperatur aus dem Getränk und stierte gedankenverloren in den Strudel vor sich. Nach einer Weile nahm sie den Löffel heraus, klopfte damit auf den Tassenrand und legte ihn auf den Stehtisch.

      Nebeneinander, auch wenn zwei Meter dazwischen, waren sie die Straße hinuntergelaufen. Hin und wieder schielte Saul verstohlen zu ihr, aber sie lief geradeaus, ohne auch nur einmal seinen Blick zu erwidern. Als sie sich dem Café näherten, streckte Saul mechanisch seinen Arm nach ihr aus, tippte sie sachte mit dem Handrücken am Oberarm an und, als sie ihre Augen auf seine Hand heftete, deutete er auf das Schild, während ihr Blick seinem Zeigefinger folgte.

      Durch die Scheibe sah man den Barista, mit einer langen grünen Schürze bekleidet, die Stühle aufstellen. Kaum hatte Saul die Tür aufgestoßen, klingelte es über ihren Köpfen, das erste Geräusch, seitdem sie das menschenlose Schweigen des Waldes hinter sich gelassen hatten. Sie blickten beide automatisch nach oben, Saul gerade noch über die Schwelle getreten, sie direkt hinter ihm. Der metallene Durchgangsmelder hatte die Stille kaputtgeschrillt und war kurz darauf wieder verstummt, sobald er seinen Zweck erfüllt hatte. Der Barista sah sie an, ein hoher Hocker noch in seinen Händen, hielt inne und ließ ihn langsam hinunter, ohne den Blick von seinen ersten Gästen zu lösen.

      Saul räusperte sich. Der erste Versuch, sich einen Kaffee zu bestellen, ging daneben, die Stimme versagte im ersten Moment. Nachdem er sich für einen Schwarzen ohne alles entschieden hatte, drehte er sich fragend zu ihr, aber sie erwiderte nichts, musterte bloß die Wände des Cafés. Saul wandte sich wieder zum Barista um und hob zwei Finger nach oben.

      Einen Berg Zucker und drei Behälter Kaffeesahne kippte sie in die pechschwarze Flüssigkeit. Beige Schwalle wölkten auf und verfärbten den Kaffee hellbraun, die Tasse füllte sich bis an den Rand, büßte ihre Hitze ein. In kleinen Schritten und ohne das Behältnis aus dem Blick zu lassen, trug sie es mit beiden Händen hinaus, während Saul ihr die Tür aufhielt. Der Durchgangsmelder klingelte wieder, aber sie lief unbeeindruckt die zwei Stufen