d Bodenheimer
Der böse Trieb
Ein Fall für Rabbi Klein
Kampa
Rabbi Jehuda lehrte: In der Zukunft wird Gott den bösen Trieb holen und ihn in Gegenwart sowohl der Gerechten wie der Bösewichte schlachten. Den Gerechten wird er hoch wie ein Berg erscheinen und den Bösewichten wird er wie ein dünnes Haar erscheinen. Beide aber werden weinen. Die Gerechten werden weinen: »Wie konnten wir einen so hohen Berg überwinden?«, und die Bösewichte werden weinen: »Wie konnten wir über ein so dünnes Haar straucheln?«
Babylonischer Talmud, Traktat Sukka, 52a
Weshalb leben Sie eigentlich dort, Viktor? Warum zieht ein frommes jüdisches Ehepaar in dieses Kaff? Wo es wahrscheinlich keinen anderen Juden gibt. Inzingen, oder wie es heißt.
Inzlingen.
Inzlingen also. Warum?
Na ja, vielleicht erzähle ich die Geschichte von Anfang an.
Ich bitte darum.
Ich bin in Berlin aufgewachsen. Sonja in der Nähe von Stuttgart. Meine Eltern stammen aus St. Petersburg. Ihre aus der Ukraine. Wir sind beide als Kinder nach Deutschland gekommen. Beide aus atheistischen Elternhäusern. Als meine Eltern vor dreißig Jahren nach Berlin kamen, wurden sie Mitglieder in der Gemeinde, weil sie dachten, dass ihnen das soziale Zusatzleistungen bringen würde. Da war aber nicht viel, wir blieben im Plattenbau, meine Mutter arbeitete für ein Reinigungsunternehmen, mein Vater hatte mal hier, mal da einen Gelegenheitsjob. In Russland war er ein hoher Angestellter in einer Flaschenfabrik gewesen, und er hatte immer gemeint, er müsse in Deutschland nur mit dem Finger schnippen, dann läge ihm alles zu Füßen. Aber keiner wollte was von ihm wissen. Immer schimpften meine Eltern, auf Deutschland, auf das Leben und am meisten auf mich, weil sie behaupteten, sie seien nur meinetwegen hergekommen, damit ich im Leben mehr Chancen haben würde. Arzt, Anwalt sollte ich werden, am besten gleich beides, immer musste ich mir das anhören. Und jede Note, die keine Eins war, wurde mir tagelang vorgehalten. Sie verlangten sogar, dass ich nach einem Jahr in Deutschland der Beste in Deutsch sein müsse. »Wenn du in eine Klosterschule gehen würdest, müsstest du dort auch der beste Katechet sein.«
Klingt nach einer unentspannten Jugend. Und Sie haben es ja auch zum Zahnarzt gebracht. Auftrag erfüllt, gewissermaßen.
Wie man’s nimmt. Sonja jedenfalls ist unter ähnlichem Druck aufgewachsen. Sollte Klaviersolistin werden. Jeden Tag vier Stunden üben. Aber sie hatte Rückenprobleme, und sie musste umsatteln. Ehrlich gesagt, ich glaube, sie hat das mit den Rückenschmerzen auch dramatisiert, um nicht Solistin werden zu müssen.
Hat sie Ihnen das einmal gesagt?
Nicht direkt. Aber sie hatte einfach noch andere Interessen. Mathematik. Theater. Sie war zu vielseitig, um ihr ganzes Leben nur an den Tasten zu sitzen.
Und wo haben sich die beiden geplagten Kinder kennengelernt?
Als wir uns kennenlernten, waren wir längst erwachsen. Und nicht mehr sonderlich geplagt. Nicht mehr und noch nicht. Ein sogenannter Jugendkongress des Zentralrats. Nettes Programm in einem feinen Hotel für umme, damit sich junge Juden, pardon, junge Jüdinnen und Juden kennenlernen.
Sie haben also doch damals schon eine jüdische Partnerin gesucht.
Ach, Herr Rabbiner, Sie haben da so romantische Vorstellungen. Religiös romantisch, meine ich. Eine Partnerin war das Letzte, woran ich dachte. Ich war mitten im Studium, es lief ganz gut, von zu Hause war ich weggezogen, damals kriegte man ja eine Bude in Berlin für fast gar kein Geld, ich kam mit Bafög und etwas Geld von der Gemeinde super klar, hatte mal hier, mal dort Sex.
Und Sonja?
Ist mir gleich aufgefallen. Einfach eine umwerfende Erscheinung. Ich war überzeugt, sie habe schon jemanden, oder jedenfalls, dass ich bei ihr keine Chance haben würde. Ich hatte schon damals kein Filmstarformat.
Und dann bekamen Sie doch Ihre Chance.
Ja. Aber die Sache hatte ihren Preis. Sonja bekam eine Stelle in Bruchsal. Ich wechselte an die Uni Heidelberg und zog zu ihr. Nach zwei Jahren schloss ich ab und arbeitete am Klinikum in Karlsruhe. Wir lebten gut, reisten in der Freizeit herum, Sonja lehrte mich, Konzerte und Theater zu schätzen. Einmal fuhren wir extra nach Wien, nur um eine Strindberg-Aufführung von Peter Zadek zu sehen. Aber sie wurde zusehends religiöser, das war für mich schwierig. Ich passte mich an, sonst hätte ich sie wohl verloren. Begann zu lernen, Tora, Halacha und so weiter. Schließlich haben wir geheiratet, Chuppa und Kidduschin, wie es sich gehört. Wir aßen nur noch streng koscher, hielten den Schabbat, Nida und so weiter. Wir hatten vor, nach Frankfurt zu ziehen, um eine große Gemeinde um uns zu haben. Dann plötzlich kam ein Anruf eines ehemaligen Studienkollegen aus Berlin. Sein Vater war Zahnarzt in Inzlingen und wollte sich auf Mallorca zur Ruhe setzen. Der Sohn war an einer Rückkehr aus Berlin nicht interessiert, und der Vater suchte einen jungen Nachfolger. Der Kollege wusste, dass ich im Süden lebte, und fragte mich an. Ein Einkauf in die gut laufende Praxis zu sehr fairen Bedingungen, Übernahme des gesamten Hauses. Ich wusste, dass ich eine solche Gelegenheit nur einmal erhalten würde.
Und wie haben Sie Sonja überzeugt mitzukommen?
Ich glaube, ich habe sie bis heute nicht überzeugt. Sie willigte aus Liebe ein, nicht aus Überzeugung. In Lörrach war eine Stelle am Gymnasium frei, Musik und Mathe, wie auf sie zugeschnitten. Ich versprach ihr, wenn Kinder kämen, würden wir die Praxis wieder verkaufen, dann hätten wir auch genug Geld, woanders was aufzubauen, wo es jüdische Schulen gebe.
Doch die Kinder kamen nicht.
Nein. Die Kinder kamen nicht.
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Inzlingen also. Mehr Pampa ging wirklich nicht, dachte Klein, als er links in die Straße mit den schmucken, großzügigen, am Hang gebauten Einfamilienhäusern einbog. An der gesuchten Adresse, Blumenacker 19, angekommen, hielt er in der Parkbucht neben der Garage und stapfte die Stufen bis zum Eingang hinauf. Bruchim habaim stand in hebräischen Buchstaben auf der Fußmatte, darunter Welcome. Am Türpfosten hing eine etwas kitschige farbige Mesusa. Klein erinnerte sie an ähnliche Exponate, die er in den kabbalistisch inspirierten Kunsthandwerkläden in der Altstadt von Safed gesehen hatte. Neben der Tür ein stilvolles Plexiglasschild: Zahnarzt Dr. V. Ehrenreich. Klein betrachtete einen Augenblick die beiden Klingelknöpfe, dann drückte er auf den oberen, auf dem Privat stand.
Sogleich surrte der Öffner, Klein trat ein und sah oben an der Treppe in der geöffneten Glastür Sonja stehen.
»Herr Rabbiner, kommen Sie herauf«, rief sie leise, angestrengt.
»Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie da sind«, sagte sie ohne weitere Grußformel, als er oben angekommen war. Klein verzichtete darauf, Sonja die Hand hinzustrecken, sondern verbeugte sich, wie es die Ultraorthodoxen taten, die ihren Respekt bezeugen wollten, ohne die Frau zu berühren. Er tat es vor allem aus Rücksicht auf Sonja, die ihn nach Art der frommen Jüdinnen mit eng um den Kopf gebundenem Turban empfing, der ihr Haar vollkommen verhüllte.
Er schaute sich kurz um. Ein geräumiger, geschmackvoll modern eingerichteter Wohntrakt mit eindrücklichen Bücherwänden, in denen religiöse und profane Bücher standen, unaufdringlich, aber hell beleuchtet, während hinter einem großen Fenster der Hang mit einigen Obstbäumen in der aufkommenden Dämmerung noch erahnbar war. An der Wand hingen mehrere abstrakte Bilder in unterschiedlichen Blau- und Grüntönen, die alle aus der Hand von einem oder zwei Künstlern zu sein schienen. Dazwischen, wie ein vollkommener Stilbruch, in der Mitte der einen Längswand die Reproduktion eines alten schwarz-weißen Porträts von einem Mann mit dichtem grauen Bart und Bowler Hat. Die beiden (wie man sogar auf dieser Aufnahme sah) verschiedenfarbigen Augen unter starken Brauen waren zugleich sorgenvoll und hypnotisch auf