Alfred Bodenheimer

Der böse Trieb


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      Rabbiner Kletzki räusperte sich.

      »Wie gesagt, fern sei es von mir, dass ich cholile einer Almune einen Wunsch verwehre, nur …«

      »Das ist sehr großzügig von Ihnen«, fiel Klein ihm ins Wort. »Ich werde es Frau Ehrenreich ausrichten. Kol tuv.« Während er auflegte, hörte er Kletzki noch eine verdatterte Abschiedsformel stottern.

      Wie immer, wenn Klein an der Welt und den Menschen verzweifelte, die sich und einander die Existenz zur Hölle machten, suchte er Halt bei seiner Frau Rivka. Sie war zwar in diesen Tagen auch etwas nervöser als sonst, was in erster Linie damit zusammenhing, dass Dafna, die ältere Tochter der Kleins, vor wenigen Wochen, nach Abschluss ihrer Matur, nach Jerusalem abgereist war, um dort ein Jahr in einer religiösen Lehrinstitution für junge Frauen zu verbringen. Sie war nur für ein Jahr gegangen, aber sowohl sie selbst als auch ihre Eltern hatten gespürt, dass sie kaum je wieder für längere Zeit heimkommen würde. Die ganzen letzten Schuljahre hindurch hatte sie davon geträumt, in Israel ihr Jüdischsein nicht mehr als »Extrawurst«, wie sie es zu nennen pflegte, zu leben, sondern als Teil einer großen jüdischen Gemeinschaft. Seit Dafna weg war, las Rivka täglich die englischen Newsseiten der israelischen Presse, befürchtete dauernd Kriegsausbrüche oder Terrorwellen und machte sich überhaupt Sorgen. Als Dafna vor zwei Tagen mit etwas belegter Stimme angerufen hatte, da hatte sie sofort erkannt, dass ihre Tochter Fieber hatte und das Bett hüten musste.

      »Ein normales Virus«, sagte Dafna.

      »Du musst zum Arzt.«

      »Ach, Mami.«

      »Sofort.«

      »Ich hab jetzt echt nicht die Kraft aufzustehen und zum Arzt zu gehen.«

      »So schwach bist du? Soll ich kommen?«

      Das war das beste Argument, um Dafna dazu zu bewegen, einen Arzt aufzusuchen. Dessen Diagnose lautete: ein normales Virus.

      Doch Rivka wusste sich von der Besorgnis um ihre Tochter, die sie in dieser zuweilen aufflammenden Heftigkeit selbst etwas zu überraschen schien, auch abzulenken. Sie arbeitete enthusiastisch an der Übersetzung eines Romans, den eine junge rumänische Autorin geschrieben hatte. Sie war besonders stolz, weil sie selbst dem Verlag das Buch vorgeschlagen hatte und dieser begeistert darauf eingestiegen war. Sie konnte während eines ganzen Essens nur über diesen Roman sprechen, und Klein schaffte es nicht immer, die erwartete Aufmerksamkeit aufzubringen.

      Rivka hatte schon damals in Arosa erkannt, dass Sonja Ehrenreich psychisch labil war. »Sie ist angespannt wie eine Feder, die nächstens zu springen droht«, hatte sie Klein noch auf der Rückfahrt erklärt.

      »Sonja hat mich gebeten, den Hesped auf Viktor zu halten«, sagte Klein nun, als beide sich zum Nachtisch noch eine Orange schälten.

      »Du musst wirklich für alles herhalten.«

      »Sie ist mit dem Rabbiner dort verkracht.«

      »Warum verkracht sich nie jemand mit dir?«

      Klein war nicht unglücklich, dass Sonja sein Angebot, eine Weile bei ihnen zu wohnen, ausgeschlagen hatte.

      »Ich habe ihn halt schon auch etwas gekannt«, meinte er matt.

      Rivka nahm seine Hand.

      »Mein Geliebter. Mein einziger, geliebter Mann. Ich mache mir Sorgen um dich. Du lässt dich dauernd in neue Sachen reinziehen. Ich möchte, dass du auch mal zur Ruhe kommst.«

      »Es ist ja nur eine kurze Rede«, meinte er, »einfach hundert Kilometer weiter weg als sonst.«

      Sie hielt seine Hand weiter, festigte etwas den Griff.

      »Ehrlich gesagt fürchte ich sehr, dass es bei dieser Rede nicht bleibt. Immer in den letzten Jahren, wenn du auch nur in die Nähe eines Gewaltverbrechens geraten bist, hat dich das mit voller Macht reingezogen. Und so was kannst du jetzt wirklich nicht brauchen.«

      Er lächelte.

      »Warum soll ich in irgendwas reingezogen werden? Das Verbrechen ist weder in unserer Gemeinde passiert noch war ich dabei, und so nahe war ich Viktor nun auch nicht, dass mich die Ermittlungen irgendwie betreffen würden.«

      Rivka gab ihm einen Kuss, einen etwas zu flüchtigen, wie er fand. Der Duft der Orange hatte sich auf ihren Körper gelegt und weckte seine Lust.

      Doch Rivka trug ungerührt die Teller und Gläser zum Abwasch, und Klein trottete ihr mit den Schüsseln nach. Während er die Sachen in die Spülmaschine räumte, tauchte vor seinem Geist wieder die Fotografie vom Mann mit dem Bowler Hat auf, die etwas deplatziert wirkend bei Ehrenreichs im Salon hing. Es überkam ihn eine Ahnung, um wen es sich handeln könnte, und er eilte zu seinem Computer, um nachzuprüfen, ob seine Vermutung stimmte. Sie stimmte. Es fanden sich im Internet noch einige wenige andere Bilder von Israel Salanter, die der Vorstellung von einem osteuropäischen Rabbi des 19. Jahrhunderts eher entsprachen, aber auch ihm gefiel dasjenige, das Viktor aufgehängt hatte, bei dem die beiden verschiedenfarbigen Augen des Rabbi den Betrachter fast hypnotisch anschauten, am besten.

       Rabbi Israel Salanter und seine Schüler. Das sind meine Leute, Herr Rabbiner Klein.

       Die Mussar-Bewegung? Eine anspruchsvolle Schule.

       Ja, genau das gefällt mir. Dienst am Oibersten durch tiefste Selbstprüfung. Du und deine freie Wahl gegen die Lust und den Trieb, dich über andere zu erheben. Du hast deine Selbstvervollkommnung in der eigenen Hand. Kein metaphysischer Hokuspokus. Kein Erlebnisjudentum. Kein Disneygott.

       Disneygott! Sie gebrauchen vielleicht Worte!

       Sie wissen, was ich meine. Allzeit wunderbereit.

       Allmächtig nannte man das früher.

       Gegen allmächtig hab ich nichts. Das Allmächtige hat auch Rabbi Israel beschäftigt. Aber von menschlicher Seite her gefällt mir am Mussar dieses nach innen Gewendete.

       Und wie steht Ihre Frau dazu?

       Meiner Frau gefällt, wenn ich schön den Schabbes halte, koscher esse und während der Nida-Zeit meine Hände von ihr lasse. Das tue ich zwar schon lange, seit bei ihr diese religiöse Umkehr eingesetzt hat. Aber nun habe ich wenigstens einen geistigen Überbau. Mussar eben.

       Immer im Kampf gegen den bösen Trieb.

       Sehen Sie, eigentlich ist es ganz einfach: Sie versuchen, das Ich mit dem Über-Ich in Übereinstimmung zu bringen und damit dem Es den Meister zu zeigen. Und das Über-Ich nennen Sie Gott.

       Gott oder Sonja?

       Vor Sonja nenne ich es Gott.

       Ich glaube nicht, dass Rabbi Israel Salanter große Freude an Ihnen gehabt hätte. Der meinte immer Gott.

       Ich bin am Anfang.

       Über diesen Satz allerdings hätte sich Rabbi Israel gefreut.

       Das wiederum freut mich. Und wissen Sie, wer mich überhaupt mit der Mussar-Bewegung bekannt gemacht hat? Ein Landsmann von Ihnen. Ebenfalls aus Zürich.

       Keine Ahnung.

       Anschel Fink. Sie kennen ihn, er war ja auch bei diesem Wochenende in Arosa. Wir sind in Kontakt geblieben.

       Ein origineller Typ.

       Hochintelligent.

       Arbeitet als Anwalt in Zug, wenn ich mich nicht irre.

       So ist es. Rohstoffsachen, viel Genaueres weiß ich auch nicht. Aber er hat mir gezeigt, dass du richtig religiös sein und dennoch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stehen kannst.

       Das hätte ich für mich auch