Lauren St John

Die weiße Giraffe


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der nächsten Minuten fuhr Tendai schweigend weiter, bis er in eine kleine Sandstraße einbog, die auf beiden Seiten von einem hohen Drahtzaun eingefriedet war. Am Ende des Wegs fuhren sie zwischen zwei weißen Säulen unter einer gebogenen schwarzen Holztafel hindurch, auf der Sawubona Wildreservat geschrieben stand.

      Der Jeep hielt an, und Tendai deutete aus dem Fenster. «Kannst du die Büffel sehen, Martine?»

      Widerwillig kämpfte sich Martine in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte in die Sonne, sah aber weit und breit nichts außer Bäumen, staubigem Buschwerk und Gras unter einem stahlblauen Himmel. Und am Horizont eine malvenfarbene Bergkette. Ein schwarzer Adler zog seine Kreise darüber.

      «Nein», sagte sie seufzend.

      «Du darfst nicht durch den Busch hindurch, sondern du musst in den Busch hinein blicken», sagte Tendai.

      Martine befolgte Tendais Rat, und tatsächlich, nach und nach gingen die Konturen der Büsche in die muskelbepackten schwarzen Fellrücken von etwa dreißig Büffeln über. Jetzt konnte sie auch ihre gebogenen Hörner und ihre ausdrucksvollen Mienen sehen.

      Und dann entdeckte sie den Elefantenbullen. Er stand unter einem Schirmbaum. Vor lauter Tarnung waren seine mächtigen Stoßzähne und sein grauer Rumpf kaum zu erkennen. Genau wie der Büffel wirkte der Elefant so archaisch wie die Landschaft, in der er stand. Doch selbst aus einer Distanz von rund dreihundert Metern war ihm seine tödliche Kraft anzusehen.

      Martine blickte voller Ehrfurcht zu dem Tier hinüber. Sie war von allem, was sie gesehen und gehört hatte, seit sie vom Flughafen weggefahren waren, überwältigt. Schließlich sagte sie: «Wow! Er ist ja so groß … und auch so ruhig. Bisher habe ich wilde Tiere nur am Fernsehen gesehen. Welche anderen Tiere gibt es hier sonst noch?»

      «Noch zwölf Elefanten», begann Tendai seine Aufzählung mit Stolz und fuhr fort: «Acht Strauße, einhundertundfünfzig Springböcke, zehn Gnus, achtzehn Kudus, zwanzig Zebras, sechs Löwen, vier Leoparden, sieben Warzenschweine, ein paar Trupps von Pavianen, einige Wasserböcke und eine …» Tendai hielt inne und schob dann rasch nach: «Das wär’s.»

      «Und eine … Was wolltest du noch sagen.»

      «Ach nichts», antwortete Tendai, um dann hinzuzufügen: «Die Stammesleute sagen, eine weiße Giraffe ist nach Sawubona gekommen. Und es geht die Legende, dass das auf einer weißen Giraffe reitende Kind über alle Tiere herrschen wird. Doch das ist alles nur Fantasie. Wir haben seit beinahe zwei Jahren keine Giraffen mehr in Sawubona, auch keine ganz normalen. Aber die Leute kommen immer wieder zu mir und sagen mir, sie haben diese weiße Giraffe gesehen. Die Stammesleute behaupten, es ist ein Giraffenbulle – ein Albino, so weiß wie ein Schneeleopard. Wenn es stimmt, so wäre diese Giraffe eines der seltensten Tiere der ganzen Welt. Aber es gibt keinen Beweis. Ich habe das Tier auf jeden Fall nie gesehen, und ich bin tagtäglich im Reservat.»

      Martine hatte ein seltsames Déjà-vu-Gefühl, als hätte sie dieses Gespräch in einem früheren Leben schon einmal geführt. «Aber glaubst du, dass es die weiße Giraffe gibt?», fragte sie ungeduldig.

      Tendai zuckte die Schultern. «Dann und wann habe ich Spuren gesehen, aber sie verschwinden immer wieder. Ich bin ihnen immer nachgegangen, doch nach ein paar hundert Metern lösen sie sich in Luft aus.»

      «Also stimmt das alles vielleicht doch!»

      Der Zulu lachte. «Die Spuren stammen nicht immer von dem, den man sucht. Früher haben sich manche Stämme Tierhufe an die Füße gebunden, um andere Jäger in die Irre zu führen, und deine Großmutter hat mir erzählt, dass Bergbewohner in Asien versucht haben, die Spuren des Yeti zu fälschen. Vielleicht ist es hier nicht anders.» Nun sah er Martine an und fügte grinsend hinzu: «Wenn es diese Giraffe gibt, so muss sie sehr schüchtern sein.»

      Tendai setzte den Jeep mit rumpelndem Getriebe wieder in Bewegung und fuhr weiter bis zu einem eisernen Tor. Er sprang aus dem Fahrzeug und öffnete das Gatter. Auf der anderen Seite ging der Fahrweg weiter, nur war er hier auf beiden Seiten von großen roten und orangefarbenen Blumen gesäumt. Weiter vorne lag ein makelloser, sattgrüner Rasen vor einem weiß getünchten Haus mit Strohdach. Martine spürte ein Kribbeln im Magen. In wenigen Minuten würde sie ihre Großmutter kennenlernen. Würde sich Gwyn Thomas freuen, sie zu sehen? Würde sie freundlich sein? Würde sie Martine lieb gewinnen, auch wenn sie sie ursprünglich gar nicht wollte? Und wenn sie sie nicht mochte? Was dann?

      • 6 •

      Die Tür des Hauses mit dem Strohdach öffnete sich, und eine große, schlanke Frau, die Martine etwas älter als 60 Jahre schätzte, trat ins Freie. Sie trug Jeans und ein kurzärmliges Khakihemd mit einem Löwensymbol auf der Brusttasche. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Martine konnte es kaum fassen, dass ihre Großmutter Blue Jeans trug, doch schon trat diese auf sie zu und nahm – ohne Ankündigung – Martines Gesicht in beide Hände. Aus der Nähe sah Martine, dass das blonde Haar ihrer Großmutter mit weißen Strähnen durchsetzt und ihre kastanienbraune Haut von einer Million Falten zerfurcht war. Sie blickte Martine mit einem völlig undurchschaubaren Gesichtsausdruck an.

      «Du bist ja erwachsen», war alles, was sie sagte. Dann wandte sie sich an Tendai. «Und du hast dich verspätet, mein Freund. Du hast doch nicht etwa wieder die verrückte alte Hexe besucht?»

      Mit Schrecken stellte Martine fest, dass Gwyn Thomas von Grace sprach. «Wir haben uns verfahren», warf sie schnell ein. «Wir sind kreuz und quer durch Kapstadt geirrt. So bin ich in den Genuss einer Stadtrundfahrt gekommen.»

      Blitzschnell drehte sich Gwyn Thomas zu Martine und stieß hervor: «In diesem Haus spricht man nur, wenn man dazu aufgefordert wird.» Dann drehte sie sich forsch um und stolzierte wieder ins Haus hinein.

      Tendai folgte ihr, Martines Koffer an einem Arm. Er blickte Martine nicht an, als er an ihr vorbeiging.

      Martine ging den beiden mit pochendem Herzen hinterher. Im Eingang saß eine rostbraune Katze, die sich putzte und Martine neugierig musterte, als diese näher kam.

      «Junge, Junge – das kann ja heiter werden», murmelte Martine vor sich hin. Doch die rostbraune Katze gähnte nur, schloss die Augen und legte sich zu einem Schläfchen in die Sonne.

      Tendai trat aus der Tür wieder ins Freie und sagte: «Deine Großmutter erwartet dich.»

      Ohne Tendai fühlte sich Martine noch einsamer als zuvor. Sie trat über die Schwelle ins Haus und blickte sich um. Im Inneren des Hauses war es kühl, es herrschte eine friedliche Stimmung, und auf dem glänzenden Steinboden standen bequeme abgewetzte Ledersessel. Eine andere Katze – diese war schwarz und weiß – lag zusammengerollt auf einem alten Klavier, an den Wänden hingen Ölgemälde mit Geparden und Elefanten. Die Sichtbalken und die Strohdecke ließen ein Gefühl von Weiträumigkeit und Ruhe entstehen.

      Martines Großmutter kam mit einem Glas Milch und einem Teller mit Eierbroten aus der Küche. Sie machte Martine ein Zeichen, sich an den Esstisch zu setzen. Martine hasste Eierbrote und war vom Essen bei Grace noch mehr als gesättigt. Doch sie sagte nichts und begann im Brot herumzustochern.

      «Bei mir gibt es keine Limo», sagte Martines Großmutter. «Limo ist schlecht.» Wie eine Löwin stand sie oben am Tisch, mit ihren blauen Augen fixierte sie Martine herausfordernd.

      «Okay», sagte Martine überdrüssig.

      «Als Erstes muss du die Regeln des Hauses lernen. Berühre nichts, was nicht dir gehört. Rennen, Schreien, Fluchen und Süßigkeiten sind verboten. Ich besitze keinen Fernseher. Ich fahre zweimal im Jahr nach Kapstadt. Also auch kein Shopping. Und auch kein Fast Food. Wir bauen unser eigenes Gemüse an. Du machst dein Bett selbst und hilfst in Haus und Garten. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, ist es Faulheit. Hast du Fragen?»

      «Darf ich atmen?», fragte Martine frech.

      «Und