es hasste. Gerade ist es nicht einmal, um sie zu ärgern. Das Bild in meinem Kopf von Papa mit den roten Augen bringt mich dazu.
Aber Mama hat sich schon abgewandt. Sie fragt, was ich denn denke, wo er ist. Und ich weiß es ja auch. Er schläft vor dem Fernseher, wie immer. Wenn ich mich anstrenge, kann ich ihn sogar im Wohnzimmer schnarchen hören.
China
Anna ist nicht zur ersten Stunde aufgetaucht, also sitze ich alleine in der hintersten Bankreihe. Das ist ziemlich ungünstig, da wir in Geographie in Zweiergruppen arbeiten müssen. Es geht um China. Und noch bevor ich überhaupt Hongkong denken kann, steht Sven vor mir und macht Schlitzaugen.
„Wie heißt Chinas Wirtschaftsminister?“, fragt er mich. Ich zucke nur mit den Schultern und schaue zu Helenas und Julies tanzenden Pferdeschwänzen. Woher sollte ich es auch wissen.
„Ching Ling Money Kling.“ Sven schlägt sich vor Lachen auf den Bauch und lässt sich auf Annas Stuhl fallen. Es hört sich haargenau an wie Papas Witze. Sven ist so platt.
Herr Hein hat die Tafel mit unterschiedlichen Themen vollgeschrieben, zwischen denen wir jetzt wählen sollen.
„Wir würden gerne Tanzen machen“, sagt Helena. Tanzen ist kein Thema von der Tafel. Es ist so typisch für Helena: Sie muss immer eine Extrawurst haben.
„Okay, gut. Wenn ihr mir eine gute Begründung nennt, könnt ihr das gerne machen.“ Hinkeheiner lächelt und schreibt Tanzen und Julie + Helena an die Tafel.
„Wir gehen jetzt immer in die Tanzschule, und da wäre es doch interessant herauszufinden, ob Chinesen auch tanzen.“
„Na dann!“ Hinkeheiner ist ganz begeistert. „Es ist immer gut, seinen Interessen mit Leidenschaft nachzugehen“, sagt er und erzählt eine Räubergeschichte von irgendeiner alten chinesischen Weisheit, die besagt, man könne ein Volk an ihrem Tanz erkennen.
„Was wollen wir machen?“ Sven starrt zu mir und ich starre an die Tafel und seufze. Ich komme nicht auf ein einziges Interesse von mir. Also jedenfalls keins, das ich mit Sven oder ganz China gemeinsam hätte.
„Wie wäre es mit Essen? Ich liebe Frühlingsrollen“, flüstert er.
„Hannes und ich wollen gerne etwas zur Ein-Kind-Politik machen“, meldet sich Kasper.
„Und Sex!“, ruft Hannes hinterher.
Julie und Helena drehen sich zu ihnen um und kichern.
„Ausgezeichnet“, sagt Hinkeheiner. „Die Ein-Kind-Politik hat China sehr beeinflusst. Dadurch, dass lange viel mehr Mädchen als Jungen geboren wurden, gibt es beispielsweise auch viele homosexuell orientierte Menschen.“
Hannes guckt plötzlich ganz verdreht aus der Wäsche und die ganze Klasse krümmt sich vor Lachen.
„Essen ist okay“, murmle ich zu Sven.
„Wir nehmen Essen!“, ruft er sofort. Und dann ist es passiert: An der Tafel steht Sven + Cecilie und Essen. Hannes hat sich wieder gefangen und pfeift dämlich und zwinkert uns zu und sagt „ohoo“. Aber was soll’s... Ich bin schließlich ein Elfer. Ich muss an mich glauben, wie ein richtiger Magier. So rede ich mir selbst Mut zu.
„Anna ist auch bei uns. Sonst hätte sie ja keine Gruppe“, sage ich laut. Aber ich bereue es sofort. Julie und Helena gucken erst verstohlen zu mir und fangen dann an zu tuscheln.
„Wir freuen uns schon jetzt auf die Leckereien, die ihr uns serviert“, sagt Herr Hein und reibt sich die Hände, nachdem er auch Annas Namen an die Tafel geschrieben hat.
Sie kommt in der ersten großen Pause und rettet mich. Also Anna.
Helena und Julie haben sehr offensichtlich auch mit dem Tanzen angefangen, allerdings in der Tanzschule. Am richtigen Ort. Dazu haben sie ein enormes Bedürfnis die Choreographie, die sie gelernt haben, jetzt allen vorzuführen. Als hätte sie jemand gefragt! Es ist auch nur halb so kompliziert wie bei mir. Aber trotzdem sieht es bei ihnen wirklich professionell aus, wie sie so selbstsicher wild mit ihren Haaren und Armen schwingen.
„Was in aller Welt machen die Möchtegern-Spicegirls denn da?“ Anna lässt sich auf ihren Stuhl fallen. Ein Rauchgeruch strömt mir entgegen, während sie mehrere Beutel mit Obst aus ihrem Rucksack hievt.
„Magst du was? Von letzter Nacht aus dem Aldi.“
„Wart ihr containern?“, flüstere ich und nehme mir einen Apfel. Er sieht gut aus. Ich beiße ab.
Anna nickt und sagt so laut, dass die ganze Klasse es hören kann: „Es ist unverantwortlich gegenüber allen Menschen, die hungern müssen, so viel noch gute Lebensmittel in den Müllcontainer zu werfen.“
Müllcontainer? Containern? Der Apfel, von dem ich gerade abgebissen habe, war in einem ekligen, stinkenden Mülleimer? Ich bilde mir sofort ein, ich könne es schmecken: Vergammeltes Essen und Rattenkacke.
Helena und Julie sind mitten in ihrer Aufführung erstarrt.
Erst glotzen sie nur blöd, dann tuscheln sie. Mal wieder.
Irgendwie fetzt es schon, wie Anna einfach daherkommt und ihnen ihre Show und alle Aufmerksamkeit stiehlt. Aber auf der anderen Seite weiß ich nicht so genau, was ich wirklich davon halten soll. Denn je mehr die anderen uns so ansehen, desto mehr höre ich auf, die alte Cille zu sein. Ich werde zu einer, die zu Anna gehört, die wie sie schwarze Sachen trägt, weiße Haut und rote Haare hat. Werde ich wie Anna, die raucht und containert und schwarze Augen hat? Heute, mit den spitz zulaufenden Lidstrichen, sieht sie passenderweise beinahe etwas asiatisch aus.
Ich tue so, als müsse ich auf die Toilette, will aber eigentlich nur den Apfel wieder ausspucken. Igitt. Hauptsache, ich werde nicht krank davon.
Patrik
Ich gehe nach der Schule mit Anna zu ihr nach Hause. Sie hatte gefragt, ob ich mitwill und irgendwie freute es mich. Julie und Helena waren auch schon weg und konnten uns nicht mehr zusammen sehen.
Als wir das Gartenhäuschen erreichen, riecht es schon bis nach draußen vor der Pforte nach Zimt. Sofia winkt uns durchs Fenster zu und sagt, sie hätte gerade die Zimtschnecken aus dem Ofen genommen.
Das Haus ist ungefähr so groß wie mein Zimmer. Und trotzdem passen sowohl ein Schlafals auch ein Wohnzimmer rein. Ich kann nur nicht so genau sagen, ob wirklich alle in dem gleichen Bett schlafen oder ob auch wer in der Stube übernachtet.
Die „Küche“ besteht aus zwei Schränken und einer Kochplatte entlang der einen Wand des Wohnzimmers und das Klo ist in einem kleinen Verschlag vor der Tür. Zum Duschen hat Nick so eine Draußendusche zum Selberzusammenbauen installiert. Mein Herz klopft schon einen Takt schneller, als Anna seinen Namen sagt. Wir gucken derweil hoch aufs Dach, wo ein Wassertank mit einem Schlauch und einem Hahn dran befestigt ist. Den dreht man dann einfach auf, sagt Anna.
„Das Wasser ist eiskalt.“
„Nicht, wenn es von der Sonne erwärmt wurde!“, sagt eine Stimme hinter uns. Es ist Nick.
Seine Augen funkeln. Doch ich glaube fast, Anna sieht das gar nicht. Sie verzieht nur das Gesicht und fängt an zu diskutieren, ob es denn jemals warm von der Sonne war. Sie glaubt das jedenfalls nicht. Sie findet es beinahe besser, im Regen zu duschen.
Im gleichen Augenblick merken wir die ersten Tropfen vom Himmel fallen und gehen rein. Sofia hat Kerzen angezündet und Tee gemacht. Sie stellt ihn auf ein kleines Tablett zwischen die beiden Matratzen auf dem Boden. Wir setzen uns.
„Wie läuft es mit den beiden Tussis in der Schule?“, fragt Sofia und gibt mir eine Zimtschnecke. Sie sind nur im Ofen warm gemacht. Erst dachte ich, sie hätte sie richtig selbst gebacken, aber sie sind aus einem großen Beutel, der in der „Küche“ auf dem Fußboden liegt. Von einem Bäcker, vermute ich. Ich sage mir einfach, dass sie sicher noch nicht schlecht sind und hoffe sehr, der Beutel war wenigstens noch zu, als sie ihn gefunden haben.
„Ach, die müssen nur ab und