John Gardner

James Bond 16: Kernschmelze


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23. Durch und durch eine Lady

      PASSAGIER FÜR FLUG 154

      Der Mann, der die Toilettenräume des Flughafens betrat, hatte helles Haar, das ordentlich auf Kragenlänge geschnitten war. Er war stämmig, etwa ein Meter sechzig groß, trug eine verknitterte Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Einem geschulten Beobachter wären besonders die durchdringenden blauen Augen aufgefallen, über denen sich die dünnen geschwungenen Brauen fast über der schmalen Nase berührten.

      Das Gesicht des Mannes war im Vergleich zu seinem Körper dünn, und die Haut wirkte im direkten Kontrast zu seiner Haarfarbe recht dunkel. Er trug einen kleinen braunen Koffer bei sich, und als er die Toilettenräume betrat, ging er schnurstracks auf eine der Kabinen zu, wobei er vorsichtig an einer Reinigungskraft im Blaumann vorbeitrat, die ohne große Begeisterung den gefliesten Boden mit einem Gummischrubber wischte.

      Sobald er sich in der Kabine befand, schob der Mann den Riegel vor, legte den Koffer auf den Toilettendeckel und öffnete ihn, um einen Spiegel herauszuholen, den er an den Türhaken hängte, bevor er sich daran machte, sich bis auf seine weiße Unterhose auszuziehen.

      Bevor er das T-Shirt auszog, schob er die Finger gekonnt unter den Haaransatz an seinen Schläfen und zog die Perücke ab, sodass darunter sein kurz geschorenes eigenes Haar zum Vorschein kam.

      Mit einem Finger und einem Daumen packte er das Ende seiner linken Augenbraue und zog ruckartig daran, wie eine Krankenschwester, die ein Pflaster von einer Schnittwunde entfernt. Die schmalen Augenbrauen verschwanden – zusammen mit ein wenig Haut –, zurückblieben ungepflegte dicke schwarze Streifen aus natürlichem Haar.

      Der Mann arbeitete wie ein Profi – sorgfältig und schnell, als stünde er unter Zeitdruck. Er holte ein Baumwollkorsett aus dem Koffer, legte es um seine Taille und zog es fest zusammen, wodurch er umgehend eine schmalere Taille bekam und gleichzeitig größer wirkte. Letztere Illusion wurde innerhalb weniger Sekunden noch verstärkt. Der Mann faltete die Jeans und das T-Shirt sorgfältig zusammen, schob seine Socken in die ausgezogenen Turnschuhe und zog ein neues Paar dunkelgrauer Socken sowie eine elegant geschnittene, leichte dunkelgraue Hose und schwarze Slipper an, in die etwas eingebaut war, das Schauspieler als »Erhöhung« bezeichnen. Auf diese Weise wurde er gute fünf Zentimeter größer.

      Er verstellte den Spiegel an der Tür, zog ein weißes Seidenhemd an und band sich eine perlgraue Krawatte um, bevor er eine längliche Plastikkiste öffnete, die direkt unter dem Korsett, den Socken, der Hose und dem Hemd im Koffer gelegen hatte und aufbeiden Seiten durch je einen der Schuhe an ihrem Platz gehalten worden war.

      In dieser Plastikkiste befanden sich neue Maskenteile für das Gesicht des Mannes. Zuerst ein Paar dunkler Kontaktlinsen und die dazugehörige Flüssigkeit, um den auffälligen hellblauen Augen eine dunkle, fast pechschwarze Farbe zu verleihen. Als Nächstes schob er sich kleine, speziell geformte Schaumgummikissen in die Backen, um sein Gesicht flacher wirken zu lassen. Während er sie im Mund hatte, würde er nicht in der Lage sein, zu essen oder zu trinken, aber das spielte im Vergleich zu dem gewünschten Effekt, den er damit erzielte, kaum eine Rolle.

      Die wichtigsten Utensilien waren ein maßgefertigter kurzer Bart und ein dazugehöriger Schnurrbart, die aus echtem Haar auf einer unsichtbaren, selbstklebenden Latexschicht aufgebracht waren. Über den Rand der Latexschicht hingen echte Borsten, und wenn der Mann diesen falschen Bart korrekt an seinem Kinn und seiner Unterlippe anbrachte, entstand selbst aus nächster Nähe der Eindruck einer vollkommen echten Gesichtsbehaarung. Ein Experte in New York, der behauptete, in einem fragwürdigen entfernten Verwandtschaftsverhältnis zu Ludwig Leichner zu stehen – dem berühmten Wagnersänger aus dem neunzehnten Jahrhundert, der außerdem als Erfinder der Theaterschminke gilt –, hatte diesen Bart speziell hergestellt.

      Der Mann lächelte das ungewohnte Gesicht an, das ihm nun aus dem Spiegel entgegenblickte, und komplettierte das neue Bild durch eine Metallgestellbrille mit Fensterglas. Auch ohne das Zutun von Leichners unbewiesenem Verwandten war die nicht wiedererkennbare Person, die ihn nun aus dem Spiegel anschaute, ein wahrer Make-up-Experte und Tarnkünstler. Es war Teil seines Repertoires – vermutlich der am wenigsten tödliche Teil –, und er hatte unter den besten Männern und Frauen in Hollywood studiert. Außerdem grenzte sein diesbezügliches persönliches Wissen fast an den Inhalt eines Lexikons. Er hatte all die berühmten Werke gelesen, wie zum Beispiel Lacys Art of Acting, den anonym verfassten Practical Guide to the Art of Making Up, der von Haresfoot and Rouge herausgegeben worden war, sowie all die anderen Standardwerke von Leman Rede, C. H. Fox und dem großen S. J. A. Fitzgerald.

      Nun schloss er die längliche Kiste, nahm ein Jackett aus dem Koffer, das zu seiner Hose passte, steckte alles Notwendige in seine Taschen – Brieftasche, Pass, Reisepapiere, Taschentuch, Kleingeld und Scheine – und musterte sich ein letztes Mal im Spiegel. Dann packte er alles mit enormer Sorgfalt ein, befestigte eine goldene Digitaluhr an seinem linken Handgelenk und nahm einen letzten Gegenstand aus einer Tasche im Kofferdeckel – eine eng anliegende Hülle, die man über den Koffer ziehen konnte, um dessen Farbe zu verändern: Auf diese Weise wurde aus dem ursprünglichen Braun ein glänzendes Schwarz. Zum Schluss verschloss er den Koffer, zog die neue Hülle darüber und verriegelte die Zahlenschlösser.

      Er schaute sich ein letztes Mal um, überprüfte seine Taschen und verließ die Kabine. Er war nun nicht mehr als die Person wiederzuerkennen, die den Toilettenraum betreten hatte. Er ging geradewegs auf den Ausgang zu, trat hinaus und marschierte quer durch die Wartehalle zum Check-in-Schalter.

      Im Inneren der Toilettenräume lehnte der Mann, der den gefliesten Boden gewischt hatte, seinen Gummischrubber an die Wand und ging ebenfalls hinaus. Er ging genau wie der andere Mann durch die Wartehalle, aber am Check-in-Schalter vorbei und zu einer Tür mit der Aufschrift PRIVAT, die er mit einem eigenen Schlüssel aufschloss. Im Inneren des Raums befanden sich ein Tisch, ein Stuhl und ein Telefon.

      Während sich der Mann mit dem neuen Gesicht darauf vorbereitete, an Bord der Aer-Lingus-Maschine EI 154 von Dublin nach London Heathrow zu gehen, sprach die unbedeutend aussehende Reinigungskraft schnell in das Telefon. Es war fast Viertel vor neun.

      GEDANKEN AUF EINER STRASSE IN SURREY

      James Bond schaltete in den dritten Gang runter, bog mit dem Saab 900 Turbo scharf nach links ab, kratzte am Grassaum entlang und beschleunigte dann noch ein wenig mehr, um den Wagen aus der Kurve herauszubringen.

      Er folgte einer komplizierten Abfolge von Landstraßen, einer Abkürzung durch Hecken und Felder und vorbei an hohen Bäumen, die die Nebenstraßen von Surrey säumten. Es war eine Route, die quer durchs Land führte und ihn schließlich zur Zufahrt nach Guildford und dann geradewegs über gute Straßen nach London bringen würde. Bond fuhr viel zu schnell. Ein Blick auf die Digitalanzeigen, die sich in der Windschutzscheibe seines speziell aufgerüsteten Saabs spiegelten, verriet ihm, dass der Wagen mit fast hundertfünfzehn Stundenkilometern unterwegs war. Auf dieser Art von Nebenstraßen war das definitiv gefährlich. Der Motor heulte auf, als er erneut einen Gang runterschaltete und dann durch eine Reihe S-Kurven beschleunigte. Langsam kehrte der gesunde Menschenverstand zurück, und Bond bremste, um die Geschwindigkeit auf ein realistischeres Maß zu drosseln. Er war jedoch noch immer aufgebracht und wütend.

      Er hatte diese Strecke an diesem Abend schon einmal in die andere Richtung zurückgelegt, um zu seinem kürzlich erworbenen und neu eingerichteten Landhaus zu gelangen. Nun raste er an diesem schönen Freitagabend Anfang Juli mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach London zurück. Das Wochenende war seit einiger Zeit geplant gewesen, und da die Handwerker und Innenausstatter ihre Arbeiten gerade abgeschlossen hatten, hätte das sein erstes freies Wochenende im Landhaus werden sollen. Außerdem hatte er geplant, es mit einer