überraschen sollte, indem er unvermittelt und mitten in der Nacht in seine Wohnung in der King’s Road zurückkehrte.
Bevor M mit den Einzelheiten des Dossiers, das voller Geheimnisse vor ihnen lag, loslegen konnte, bat Bond um die Erlaubnis, das Büro für einen Moment verlassen zu dürfen.
M schenkte ihm einen seiner verärgerten, altmodischen Blicke, bekundete aber widerwillig mit einem Nicken seine Zustimmung, dass Bond von seinem eigenen Büro aus ungestört ein Telefonat führen könne.
Letztendlich war es dann doch leichter für Bond, seine eigene Nummer an Miss Moneypennys Apparat zu wählen. May hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, die Bürozeiten ihres Arbeitgebers zu begreifen, und fragte nur, ob er etwas Besonderes zu essen haben wolle, wenn er nach Hause komme. Bond erwiderte, dass er nichts gegen ein paar nette geräucherte Schellfische einzuwenden hätte – falls sie noch welche da hätte. Da May in Fragen der Küchenausstattung eine streng konservative Einstellung pflegte, hätte sie nie im Leben eine Gefriertruhe in ihrem Reich zugelassen. Bond war diesbezüglich ihrer Meinung, auch wenn es manchmal angenehm war, Delikatessen in Reichweite zu haben, also hatten sie einen Kompromiss gemacht. Bond hatte sie taktvoll dazu überredet, den Kauf eines großen Bosch-Kühlschranks mit einem geräumigen Tiefkühlfach zu gestatten, das May dann die Eiskiste getauft hatte. Nun glaubte sie, dass vielleicht noch ein paar geräucherte Schellfische in der »Eiskiste« sein könnten und fügte hinzu: »Ich werde sehen, was ich tun kann, Mr James, aber kommen Sie nicht allzu spät zurück.« Wenn sie in der richtigen Stimmung war, hatte May die Angewohnheit, Bond so zu behandeln wie ein Kindermädchen seine kleinen Schützlinge.
Die Tatsache, dass Bond das Büro nur für ein paar Minuten verlassen hatte, besänftigte M, der seine Pfeife neu gestopft hatte und die Dossiers studierte. In bissigem Ton fragte er, ob es 007 gelungen sei, die Angelegenheit so zu regeln, dass sie nicht noch einmal unterbrechen mussten.
»Ja, Sir«, antwortete Bond ruhig. »Ich bin bereit für den Laird von Murcaldy, Rob Roy und sogar Bonnie Prince Charlie, wenn Sie das wünschen.«
»Das ist nicht zum Lachen, 007«, sagte M streng. »Die Murik-Familie ist eine adlige Linie. Es gab einen Laird von Murcaldy bei Dunbar und einen weiteren bei Culloden Moor. Allerdings ist es möglich, dass die wahre Linie mit dem Großvater des aktuellen Lairds ausstarb. Das muss noch bewiesen oder sogar richtig getestet werden, aber das ist eine Angelegenheit, die den Lord Lyon King of Arms beschäftigt.« Er blätterte ein wenig im ersten Dossier. »Anton Muriks Großvater war ein bekannter Abenteurer – ein Reisender. Im Jahr 1890 war er für über drei Monate in Mitteleuropa verschollen – es hieß, er sei auf der Suche nach seinem Bruder gewesen, der wegen irgendeines Vergehens enterbt worden war. Ihre Eltern waren tot, und die Dorfbewohner glaubten, dass Angus Murik – so lautete sein Name – vorhatte, mit seinem Bruder zurückzukehren und das schwarze Schaf der Familie zurück in die Herde zu holen. Doch stattdessen kehrte er mit einer Ehefrau zurück. Den Aufzeichnungen zufolge handelte es sich um eine Ausländerin. Sie war schwanger, und es gab außerdem schriftliche Dokumente, die darauf hindeuteten, dass der verlorene Laird gar nicht Angus, sondern dessen Bruder Hamish war. Man vermutete auch, dass das Kind, das später Antons Vater werden sollte, unehelich geboren wurde, da es keinerlei Aufzeichnungen über eine Eheschließung gab.«
Bond schnaubte. »Aber das würde die Blutlinie doch sicher nur schwächen und nicht komplett zerstören.«
»Normalerweise schon«, fuhr M fort. »Doch Anton wurde zusätzlich unter ungewöhnlichen Umständen geboren. Sein Vater war ein wilder Bursche, der sich im Alter von achtzehn ebenfalls auf Reisen begab. Er kehrte nie zurück. Es gibt einen vollständig erhaltenen Brief, in dem steht, dass er in Palermo eine Engländerin von guter Herkunft geheiratet hätte. Doch kurz darauf traf eine junge hochschwangere Frau in Murik Castle ein und verkündete die Neuigkeit, dass ihr Ehemann, der Erbe des Titels, während einer Expedition nach Sizilien von Banditen getötet worden sei.«
»Wann war das?« Für Bond klang das nach einer verwirrenden und seltsamen Geschichte.
»1920.« M nickte, als würde er Bonds Gedanken lesen. »Ja, und es existieren Zeitungsberichte über einen ›englischen‹ Herrn, der auf Sizilien ermordet wurde. Die Zeitungen behaupten allerdings, dass die Frau dieses Mannes ebenfalls bei dem Überfall ums Leben kam, obwohl die junge Frau darauf beharrte, dass ihr Dienstmädchen diejenige war, die starb. Die Gräber in Caltanissetta sind entsprechend beschriftet, aber Tagebücher und ein paar Erinnerungen besagen, dass die junge Frau, die sich als die Ehefrau des mutmaßlichen Lairds vorstellte, alles andere als eine englische Dame von guter Herkunft war. Es ist schwierig, Fakten von Fiktion zu trennen. Doch wir wissen mit Sicherheit, dass einige der älteren Leute auf dem Murik-Anwesen nach wie vor darauf bestehen, dass Anton nicht der wahre Laird ist – doch da sie natürlich wissen, mit wem sie sich gut stellen müssen, flüstern sie nur heimlich darüber und werden es weder Fremden noch einer Behörde gegenüber zugeben.«
»Aber das Baby wurde Anton getauft und übernahm den Titel?«
»Es wurde Anton Angus getauft und erhielt den Titel Laird von Murcaldy, ja«, bestätigte M mit kaum merklich verzogenen Lippen.
»Also müssen wir ihn wie einen schottischen Laird behandeln, egal was passiert. Ich vermute, er ist außerdem ein echter Kernphysiker? Müssen wir diesen Teil ernst nehmen?«
»Wir nehmen ihn sogar sehr ernst«, sagte M und wiederholte: »Sehr ernst. Es besteht absolut kein Zweifel, dass Anton Murik ein hochintelligenter Mann mit großem Einfluss ist. Sehen Sie sich nur mal die Zusammenfassung seines Werdegangs an.« Er reichte Bond die entsprechende Seite des Dossiers, und Bond überflog die Informationen schnell:
Anton Angus Murik. Geboren in Murik Castle, Murcaldy, Ross und Cromarty, Schottland, 18. Dezember 1920. Ausgebildet in Harrow und am St. John’s College, Cambridge. Bestnoten in Physik gefolgt von einem Stipendium und dann einem Doktorat. So gut, dass er unter Professor Lindemann – dem späteren Lord Cherwell – arbeiten durfte, dem wissenschaftlichen Berater Winston Churchills. Arbeitete auch am Manhattan-Projekt (der Entwicklung und Erprobung der ersten Atombombe) und ist Mitglied im Komitee für den friedlichen Einsatz von Atomenergie und der internationalen Kommission für Atomenergie …
Murik hatte sich erst vor zwei Jahren von dieser letzten Position zurückgezogen. Es folgte eine lange und beeindruckende Liste aus Firmen, mit denen Murik in Verbindung stand. Bond zog seine Augenbrauen immer höher, während er die Liste las. Unter anderem war Anton Murik der Vorsitzende von Micro-Modulators Ltd., Eldon Electronics Ltd., Micro Sea Scale Ltd. und Aldan Aerospace Inc. Außerdem war er Mitglied in zahllosen Gremien, die alle eine direkte Verbindung zu Atomkraft oder Elektronik hatten. Bond sah auch, dass die Firmen einige Spezialisten unter Vertrag hatten, die sich bestens mit der Entwicklung und dem Bau von einsatzfähigen Kernreaktoren auskannten.
»Erkennen Sie, was nicht zum Rest passt?«, fragte M durch eine Wolke aus Pfeifenrauch.
Bond schaute erneut auf die Liste. Ja, dort zwischen all den Elektronik- und Atomenergiefirmen und den Luft- und Raumfahrtkonzernen befand sich ein seltsamer Eintrag mit der Bezeichnung Roussillon Fashions. Bond las den Eintrag laut vor.
»Ja. Eine verdammte Kleiderfabrik«, schnaubte M.
Bond lächelte in sich hinein. »Ich glaube, es ist ein wenig mehr als nur eine Kleiderfabrik, Sir. Roussillon ist eines der führenden Modehäuser der Welt. Sie haben Zweigstellen in London, Paris, Rom, New York, die ganze Palette. Fragen Sie jede beliebige Frau mit einem Sinn für Mode. Ich schätze, Roussillon rangiert unter den fünf größten Modehäusern der Welt.«
M schnaubte wieder. »Und sie verlangen zweifellos auch die höchsten Preise. Nun ja, Anton Murik besitzt einen Hauptanteil an dieser Firma.«
»Ich vermute, er zieht nicht einfach nur gerne schicke teure Frauenkleider an oder so was in der Art?« Bond grinste.
»Seien Sie nicht so frivol, 007. Sie müssen den finanziellen Aspekt bedenken.«
»Tja, er muss Multimillionär sein«, sagte Bond fast zu sich selbst. Solche Dinge beeindruckten ihn selten, aber allein anhand der Liste vor ihm auf dem Tisch konnte er erkennen,