Franz Werfel

Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman


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mehr, jedenfalls vor einem geradezu astronomischen Zeitraum. Das Interregnum zwischen meinem Tod und dem jetzigen Augenblick habe ich nicht ganz bewußtlos zugebracht. Das abgelebte Leben in mir wirkte so stark nach, daß die schier unendliche Pause mir nicht länger und wichtiger erscheint als eine kurze Nacht. In dieser kurzen Nacht freilich scheint mich einiges betroffen zu haben, das sich noch nicht ganz zum Lichte durchgerungen hat. Währenddessen aber hat mein Freund B.H., von tibetanischen Mönchen trainiert, eine oder mehrere Wiedergeburten durchmessen, der fixe Kerl. Und jetzt gerade nimmt er neuerdings teil an einer fortgeschrittenen Epoche der Menschheit, wo man mit hundertsieben Jahren einem Studenten von 1910 gleicht. Er ist es, der mich dank dem technisch hochentwickelten Spiritismus dieser Läufte hat ins Leben zitieren lassen, wenn auch nicht ins richtige Leben. (Noch war ich von meinem Reiseerlebnis nicht weit genug fortgerissen, um nicht zu zweifeln, ob dies das richtige Leben sei.) Was tut’s? Ich sollte weniger empfindlich und cholerisch sein. Mein unsichtbarer Zustand, wenn auch mit wahrem Leben nicht zu vergleichen, erspart mir andererseits die Fährnisse, Risken und Sinnesverdunklungen einer Existenz, die mit sich selbst identisch ist. Ich darf meine Neugier frei schweifen lassen. Eine ähnliche Gelegenheit bietet sich selten wieder. So dachte ich. Laut aber rief ich aus:

      „Worauf warten wir noch, B.H.? Gehn wir vielleicht zu Fuß zu dieser Hochzeit?“

      „Ja“, nickte er, „natürlich gehn wir zu Fuß, wir haben ja nur vierhundert Meilen Wegs.“

      Ich hatte mich sicher verhört. Darum drehte ich mich um meine eigene unsichtbare Achse, nach allen Seiten Ausschau haltend.

      „Wo ist dein Auto? Wo ist der nächste Parkplatz? Ich nehme an, daß heutzutage jeder Säugling seinen eigenen Kraftkinderwagen besitzt, der von der Mutter, die zu Hause wirtschaftet, mittels Kurzwellen sicher durch den tödlich dichtesten Verkehr gelenkt wird. Das war ja beinahe zu meiner Zeit schon erreicht.“

      „Meinst du unter Auto und Kraftwagen etwas, das auf Rädern gerollt wird?“ fragte der Wiedergeborene, und Anstrengung des Denkens und ein leichter Abscheu lag um seinen jugendlichen Mund. Ich suchte Fassung zu bewahren:

      „Hör einmal, B.H., du behauptest, wir befinden uns hier inmitten einer Stadt, einer zusammenhängenden Siedlung. Was für eine Stadt aber ist das, die einer noch nicht entdeckten oder schon wieder verlassenen Urlandschaft gleicht in ihrer Pontischen Trostlosigkeit? Erinnerst du dich nicht aus deinen verschiedenen Reinkarnationen, was eine moderne Großstadt ist oder war? Hast du vergessen die zehntausend schnittigen, lautlos gleitenden Gefährte, die von den roten Stoplichtern wie Brandungen gestaut, von den grünen entlassen werden wie glänzende Stromschnellen? Und die langsam sich weiter schiebende Lava der gierig erregten Menge vor den riesigen Spiegelscheiben der Schaufenster, die stets aufs neue die ermüdete Sinnlichkeit aufstacheln zu erfüllbar-unerfüllbarem Wunschleben? Und in der Nacht die kreisenden, jagenden, zuckenden Figuren des Neonlichts zu unsern Häupten? Was rede ich da? Ich komme mir vor, als wäre ich in die reaktionärste Leere verschlagen, ja, meiner Treu, in eine ausgestorbene Welt des unfaßbarsten Rückschritts! Ist es möglich, daß die Technik, an deren früher Wiege wir standen, der wir eine Unendlichkeit von Zukunft und Wohltat zubilligten, ganz und gar verloren und vertan sei binnen sechzig- bis hunderttausend Jahren?“

      Der alte Freund lächelte nachsichtig zu meinen Worten.

      „Es hat weit weniger bedurft“, sagte er, „als solch einer Zeitspanne, um das auszuschalten, was du vermutlich mit dem heute verloren gegangenen Begriff Technik ausdrücken willst, obwohl gerade während dieser Zeitspanne jenes ungeheure Ereignis eintrat, das allein schon genügt hätte, das geschichtliche Gedächtnis der Menschheit auszulöschen. Dieses Gedächtnis aber ist nicht ausgelöscht worden, sondern nur ein bißchen verwischt, was die Zeiten vor dem Ereignis betrifft. Zum Beweise des Gesagten möge dir dienen, daß wir noch immer die Jahre, wie in den Anfängen der Menschheit, von Christi Geburt her rechnen. Die Technik aber, wenn ich mich recht erinnere, ein primitiver Greuel, zusammengesetzt aus Massenmord, Benzingestank, elektrischer Hochspannung, Atomzertrümmerung, leerer, langsamer Geschwindigkeit und entnervender Bequemlichkeitssucht, unsereins könnte sie nicht mehr ertragen ohne ernstlich zu erkranken. Wer zum Beispiel würde sich in eines jener plumpen Rädervehikel setzen dürfen — man bewahrt einige davon noch auf — ohne einer Nervenkrise ausgesetzt zu sein . . .“

      Er hielt inne und sah mich zögernd an. Ich bemerkte, recht eigentlich zum erstenmale, daß B.H. eine alte Felduniform trug und Wickelgamaschen an den Beinen hatte. Bei näherem Hinschauen aber war’s nur die Nachahmung, die Kopie einer alten Felduniform, und zwar in einem mir unbekannten, überaus feinen, silbergrauen Schleierstoff.

      „Ich will dich nicht beleidigen, F.W.“, fuhr er fort, „die Menschen haben ihre Kräfte immer angestrengt und ausgedehnt bis an die Grenzen, die ihnen ihre Zeit setzte. Auch wir verwenden selbstverständlich technische Hilfsmittel, wenn du willst. Nur ist unsre Technik lautlos, bescheiden und nicht physikalischer oder chemischer, sondern mentaler Art. Sieh dir zum Beispiel dieses Instrument an, das jeder Zeitgenosse bei sich trägt. Es erspart unsern Eingeweiden, die ihre Ruhelage nicht verändern sollen, jegliches Abenteuer auf rollenden Rädern. Es erspart uns sogar das Abenteuer von Raketen-Luftreisen der primitiven Zeit, jene Reiseart, die dem Sauerstoffhaushalt menschlicher Herzen und Lungen einst so übel zusetzte, daß gewisse Generationen es nicht über fünfzig Jahre Lebensalter bringen konnten. All die Generationen, die durch die Luft hin und zurück eilten, um zu kaufen und zu verkaufen, mußten den frühen raschen Herztod hinnehmen wie ein Naturgesetz. Diese Schädigungen hat gottlob die Menschheit überwunden, ich vermag dir gar nicht zu sagen seit wie vielen Jahrzehntausenden! Die Historiker sind sich nicht einig über den genauen Zeitpunkt, wann die materielle Reiseart von der mathematisch-mentalen Reiseart abgelöst worden ist. Daß sich dieser Zeitpunkt aber im dunkelgrauesten Altertum verliert, darüber herrscht kein Zweifel . . .“

      „Mathematisch-mentale Reiseart?“ fragte ich bestürzt.

      „Diese Sache“, tröstete er mich, „beruht auf einer urtümlich simplen Einsicht von der Relativität aller bewegten Punkte des Kosmos im Verhältnis zueinander. Simpel wie alles Große ist diese Sache, und man sieht geradezu den braven, namenlosen Handwerksmann mit glattem, schlichtem Weißhaar vor sich, der in mythischer Vorzeit die Relativitätstheorie ausgesonnen hat. Kurz gefaßt: wir bewegen uns, wenn wir reisen, nicht auf das Ziel zu, sondern wir bewegen das Ziel auf uns zu.“

      Während dieser Erklärungen hielt er mir ein Ding unter die Nase, das größer war als eine Taschenuhr und kleiner als ein Barometer, also ungefähr einem bescheidenen Kompaß glich. Da ich auf B.H.s abgebissene Fingernägel starrte, wurde ich nicht sogleich gewahr, daß ich Instrumente gleich diesem längst schon gesehen hatte. Es schien mir eines jener Geduldspiele aus meinem Kindheitsbesitz zu sein, bei denen man durch geschicktes Manövrieren bunte Kügelchen in die dazu bestimmten Löchlein praktizieren mußte.

      „Ich verstehe nichts von Mathematik“, sagte ich ausweichend, während ich das alte Spielzeug betrachtete, staunend und von unsagbar schwermütigen Empfindungen bewegt.

      „Die Mathematik ist nur ein Hilfsmittel“, beruhigte mich B.H. „Sie ist eine tautologische Operation, die ein Zeichen einem andern gleichsetzt, um durch solche Gleichsetzungen zu unbekannten Resultaten vorzudringen. Auf der Leiter der Gleichsetzungen läßt es sich freilich getrost herumklettern, wie du sehr bald selbst erfahren wirst.“

      Und indem er mit stumpfem Zeigefinger auf das glasbedeckte Zifferblatt des Geduldspiels hinwies:

      „Siehst du hier die beiden konzentrischen Kreise der kleinen Löchlein? Der äußere gehört der Mathematik an. Da müssen die blaßblauen Kügelchen hinein. Hier! Da du unsichtbar bist, kannst du gewiß auch ohne Brille diese Diamantschrift lesen . . .“

      Und ich las ohne Brille und ohne Mühe: „ ,Galaktischer Zeitpunktʻ ― ,Planetarer Zeitpunktʻ ― ,Kontinentaler Zeitpunktʻ ― ,Örtlicher Zeitpunktʻ ― ,Galaktischer Raumpunktʻ ― ,Planetarer Raumpunktʻ ― ,Kontinentaler Raumpunktʻ — ,Örtlicher Raumpunktʻ ― ,Genaue Winkelneigung des Lichtstrahlsʻ.“

      „So, da wären wir“, sagte B.H., während er mit jungenhafter Freude an seiner Überlegenheit die blaßblauen Kügelchen in die Löchlein hineinbalancierte, welche