Marie Louise Fischer

Katrin mit der großen Klappe


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viel.“ Frau Dr. Mohrmann wandte sich an die Klasse. „Die Enkel des Urgroßvaters mußten also auf dem Hof mithelfen, und die Kinder des Urgroßvaters …“

      „Die erst recht!“ rief Katrin.

      „Und seine Frau?“

      „Natürlich auch!“ sagte Silvy.

      „Die ganze Familie half also zusammen, nicht wahr? So war es nicht nur bei den Bauern, sondern auch bei den Handwerkern und bei den Heimarbeitern. Die Familie half dem Vater bei der Arbeit. Und heute?“

      „Brauchen wir nur noch der Mutter beim Abwaschen zu helfen!“ sagte eines der Mädchen.

      „Tja, falls man keine Geschirrspülmaschine hat!“ ließ sich Katrin vernehmen.

      „Bleiben wir erst mal beim Vater“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Was hat sich in der Industriegesellschaft geändert?“ Sie gab sich selber die Antwort. „Die meisten von euch werden sehr wenig von der Arbeit ihrer Väter wissen. Der Vater arbeitet nicht mehr zu Hause, nicht mehr in der Nähe der Wohnung, selten noch in einem Laden oder einem Betrieb, der in der Wohnung oder nahe dabei ist, sondern meistens in irgendeiner großen Firma, zu der die Familie keine Beziehung hat. Habe ich recht?“

      Sie bekam so viele Antworten auf einmal, daß sie eine Weile warten mußte, bis sich der Sturm gelegt hatte.

      „Fein“, sagte sie, „ich sehe, das ist ein Thema, das euch interessiert und über das ihr viel zu erzählen wißt. Dann wird es euch bestimmt freuen, einen Aufsatz darüber zu schreiben …“

      Sie achtete nicht auf die langgezogenen „O - o - o - chs“, die hörbar wurden, sondern ging zur Wandtafel, nahm die Kreide und schrieb mit ihrer schönen flüssigen Schrift: „Was ich von dem Beruf meines Vaters weiß …“ Sie drehte sich zur Klasse hin um. „Wem gar nichts einfällt oder wer aus irgendwelchen anderen Gründen nicht über seinen Vater schreiben will, kann auch den Beruf eines Großvaters oder Urgroßvaters zum Thema nehmen. Ihr habt drei Tage Zeit.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, und genau in diesem Augenblick klingelte es zur großen Pause.

      Im Wäldchen der Parkschule

      Der Architekt, der die Parkschule entworfen hatte, hatte sich für den Schulhof etwas Besonderes ausgedacht: ein Stück der alten Stadtwaldes war in das Schulgebäude einbezogen. Die Buchen und Tannen standen nur nicht mehr so dicht wie im Wald, das Unterholz war niedergemacht, der Boden planiert worden. Jetzt konnte man zwischen den Bäumen spazieren gehen, Nachlaufen und Verstecken spielen.

      Der Baumbestand machte es den Lehrern einigermaßen schwierig, ihre Schäfchen während der Pause im Auge zu behalten. Aber die Schülerinnen liebten ihr „Wäldchen“, wie sie es zärtlich nannten, und in den Pausen war es immer der Hauptanziehungspunkt.

      Die Mädchen der 6 a stürmten mit einer Geschwindigkeit aus der Klasse und die breite, geschwungene Treppe hinunter, als gälte es einen Weltrekord zu brechen, allen voran die Freundinnen Katrin, Silvy, Olga, Ruth und Leonore. Sie wollten ihren Lieblingsplatz, einen Bretterstapel, erreichen, der ihnen bei jeder Gelegenheit von den Mädchen der 8. Klasse streitig gemacht wurde.

      Diesmal schafften sie es und kletterten mit Hallo hinauf. Der Bretterstapel lag so günstig, daß auch jetzt, im Spätherbst, das volle Sonnenlicht darauf fiel. Außerdem bot er eine wunderbare Aussicht auf den Stadtwald, der sich einen kleinen Berg hinaufzog und in gelben, roten, grünen und braunen Tönen leuchtete.

      Die Mädchen reckten ihre Gesichter der Sonne entgegen, tun ihre sommerliche Bräune aufzufrischen. Nur Olga Helwig lehnte im Schatten einer Buche.

      Leonore streckte ihr die Hand hin. „Komm, Olga, es ist noch ein Platz frei! Ich helfe dir rauf!“

      Olga schüttelte stumm den Kopf.

      „Laß sie doch“, sagte Katrin. „Sie bockt wieder mal!“

      „Das ist nicht wahr!“ Olga stampfte mit dem Fuß auf, sie war rot geworden.

      „Dann hat sie wahrscheinlich Angst vor Sommersprossen! “ behauptete Silvy.

      „Ihr seid gemein!“ schrie Olga und stürzte davon.

      Alle lachten, außer Leonore.

      „Ihr müßt die arme Olga nicht immer so ärgern“, sagte sie. „Ihr wißt, wie überempfindlich sie ist. Außerdem ist das mit den Sommersprossen Quatsch. Im Herbst kriegt man gar keine mehr.“ Sie rutschte von dem Stapel herab.

      „Wo willst du hin?“ fragte Ruth.

      „Olga zurückholen. Allein findet sie sonst wieder eine ganze Woche nicht aus ihrem Bock heraus.“

      „Und was wird aus uns?“ rief Ruth erschrocken. „Wenn die Achte kommt …“

      „… müßt ihr sie eben zurückschlagen oder das Feld räumen!“ erklärte Leonore ungerührt und verschwand.

      „Langsam fängt diese Olga wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen“, sagte Silvy.

      „Nicht halb so sehr wie das Mohrchen“, sagte Katrin und biß kräftig in ein gut belegtes Butterbrot. „Was die uns immer erzählt … Industriegesellschaft! Ich möchte wetten, davon steht kein Wort im Lehrplan.“

      „Ich finde das eigentlich ganz nett“, meinte Silvy gnädig, „Mohrchen läßt sich wenigstens hin und wieder mal was einfallen.“

      „Ja, ein Aufsatzthema für uns!“ Katrin baumelte mit ihren langen Beinen und trommelte mit den Fersen gegen den Stapel, „Das heißt auf gut deutsch: wir müssen es ausbaden.“

      „Ist doch gar nicht schwer!“ erklärte Ruth mit überraschender Sicherheit. „Über den Beruf meines Vaters kann ich Bände schreiben.“

      „Kunststück! Dein Vater ist Friseur! Da kannst du immer zugucken, was er macht!“ rief Silvy. „Aber was soll ich sagen? Mein Vater ist Versicherungskaufmann. Könnt ihr euch da was drunter vorstellen?“

      Katrin biß zur Abwechslung in einen dicken roten Apfel. „Ich bin dafür, daß wir das Thema wechseln“, sagte sie, „ich habe keine Lust, mir auch noch die Pause durch öde Schulgeschichten verderben zu lassen.“

      „Aber du hast doch damit angefangen!“ piepste Ruth und schlug sich, erschrocken über ihre Kühnheit, mit der Hand vor den Mund.

      „Was habe ich!?“ Katrin streckte den langen Arm aus, packte zu und zerrte an Ruths komplizierter Frisur, als wäre ihr schönes, blondes Haar eine Perücke, die man abnehmen konnte.

      „Au!“ schrie Ruth. „Du tust mir weh! Bitte, laß los .. vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.“

      Aber Katrin schüttelte sie — nicht gerade rauh, aber es ziepte dennoch gehörig. „Willst du noch einmal eine so freche Bemerkung machen?“

      „Nein! Nie wieder!“

      „Dann ist es ja gut.“ Katrin gab Ruth frei, die ihren Taschenkamm zückte und sich sogleich daran machte, ihren Haaraufbau wieder in Ordnung zu bringen.

      „Müßt ihr euch denn immer streiten!“ sagte Silvy und rümpfte verächtlich die spitze Nase. „Ich finde das einfach kindisch.“

      „Ist mir egal, wie du das findest“, gab Katrin zurück, „ich denke jedenfalls nicht daran, mir von irgend jemandem irgendwas gefallen zu lassen.“

      Sie blitzte dabei die Freundinnen aus ihren schwarzen, funkelnden Augen so drohend an, daß sogar Silvy es für besser hielt, sie nicht mehr zu reizen.

      „Kinder“, rief sie, „ich habe ganz vergessen euch zu erzählen .. habt ihr gestern die Zeitung gelesen?“

      „Nein, wieso?“ fragte Ruth.

      „Welche?“ wollte Katrin wissen.

      „Die hiesige natürlich“, sagte Silvy, „oder meinst du, ich studiere die New Yorker Presse?“

      „Warum