Liv Frohde

Spur in die Vergangenheit


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Mann, der sich unter einem Baum ausruhte. Im Schoß hatte er ein Gewehr und neben ihm im Gras lag ein Bündel toter Vögel. Vor ihm stand ein Hund und bellte. Sein ganzer Körper schien zu zittern. Das Maul war offen und sie konnte darin die scharfen Eckzähne erkennen.

      Sie ging langsam von Regal zu Regal. Ein Soldat in Habt-Acht-Haltung, mit Bärenfellmütze auf dem Kopf und dem Gewehr über der Schulter, ein Junge, der einen zappelnden Fisch am Haken hatte. Doch besonders schön war eine kleine Frau im langen Kleid und Spitzen auf dem Rock. Über der Schulter trug sie ein Umhängetuch mit Fransen und im Arm einen geflochtenen Korb. Darin lagen Rosen, die über den Rand lugten. Maja beugte sich vor und betrachtete genau das Gesicht der kleinen Frau. Das grenzte an Zauberei. Wie konnte man aus einem Stück Holz so etwas Lebendiges schaffen?

      Sie war so beschäftigt, dass sie gar nicht merkte, dass der Gorilla zurückgekommen war und direkt hinter ihr stand. Sie schrak zusammen, als er sagte: »Jetzt habe ich dein Fahrrad geholt. Aber du wirst nicht damit fahren können. Das Vorderrad ist völlig verbogen.«

      Doch Maja hatte jetzt etwas anderes als das Fahrrad im Kopf. Sie war völlig gefangen von diesen wunderbaren, märchenhaften Figürchen.

      »Wo hast du die her?«, fragte sie.

      »Ich hab sie geschnitzt«, sagte der Gorilla.

      »Du?« Maja musterte den schwerfälligen Mann misstrauisch. Ihr Blick fiel auf die langen Gorillaarme. Die Hemdsärmel waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, und die kräftigen, behaarten Unterarme endeten in Fäusten, die so groß waren wie Schöpfkellen. Wie konnten so riesige Pranken diese winzigen Spitzen auf dem Kleid der kleinen Frau schnitzen oder die so echt aussehenden Rosen in dem Korb? Sie wollte einfach nicht glauben, dass der halb verrückte Gorilla diese kleinen Wunderwerke geschaffen hatte.

      »Ich heiße Nikolai«, sagte er. Er sprach seinen Namen deutlich aus, Silbe für Silbe, Ni-ko-lai.

      Maja wandte den Blick ab. Sie spürte, wie ihr heiß im Gesicht wurde. Es war, als hätte er direkt ihre Gedanken erraten.

      »Ich heiße Maja«, stammelte sie. »Ich wohne in dem roten Haus an der Kurve zum Tårnåsveien.«

      »Ich weiß«, sagte er ruhig.

      Für eine Sekunde tauchte der unbewegliche Schatten in ihrem Kopf auf. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Ihre Augen irrten durchs Zimmer.

      Nikolai drehte ihr den Rücken zu und beugte sich über den Tisch. Das weiße Haar hing über den Hemdkragen, die Schultern wölbten sich über die kräftigen Arme. Der Hosenboden war abgewetzt. Die Pantoffeln glichen zottigen Tieren.

      Er richtete sich auf und sah sie an. In seiner Hand blitzte etwas Scharfes. Maja blieb fast das Herz stehen. Aus der großen Faust ragte die spitze Klinge eines Messers. Sie trat einen Schritt zurück und wäre beinahe gestürzt. Die grauen Pantoffeln schlurften auf sie zu und sie meinte, er wolle sie fangen. Maja zog den Stuhl vor sich. Sie umklammerte die Stuhllehne, dass die Knöchel weiß hervortraten. Nikolai senkte den Arm. Die Klinge berührte das graue Hosenbein. Die Spitze wies auf den Boden. Er schaute sie mit seinen merkwürdigen, schiefen Augen an. Sie hätte am liebsten geheult. Sie ließ die Stuhllehne los und wischte sich die schweißnassen Handflächen an ihrer Hose ab.

      Nikolai wandte sich um, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Er begann, an einer halbfertigen Figur zu schnitzen. Maja stand wie erstarrt da. Sie wollte eigentlich nur raus und weg von hier, aber irgendetwas an der schweigsamen Gestalt am Tisch hielt sie zurück. Draußen vor dem Fenster hörte sie das gleichmäßige Geräusch des Regens. Es vermischte sich in ihrem Kopf mit den scharfen Lauten der Messerklinge auf dem harten Holz.

      Sie hatte das Gefühl, dass eine Ewigkeit verging.

      Dann sagte Nikolai: »Möchtest du zusehen, wie ich das mache?« Seine Stimme war ruhig und normal.

      Maja schob den Stuhl zur Seite, kam vorsichtig näher. Hinter seinem Rücken blieb sie stehen und schaute ihm über die Schulter. Er arbeitete an einem kleinen Tier. Er führte die blanke Messerklinge an einer gekrümmten Linie entlang über das gelbe Holzstück. Er deutete auf den Hocker neben sich.

      »Hast du Lust, es selbst mal zu probieren?«

      Sie nickte. Dann setzte sie sich auf den Hocker. Nikolai drückte ihr das lange, blanke Messer in die Hand. Das Metall fühlte sich kalt an in der Handfläche, der Griff war noch warm von seiner Hand. Sie nahm das Messer fest in die Hand und schabte unbeholfen über das harte Holz.

      »Nein, nicht so! Du musst das Messer anders halten!« Er legte den Arm um ihren Rücken und brachte das Messer in die richtige Stellung. Dann umfasste er mit seiner Pranke ihre Hand mit dem Messer und führte sie mit geübten Bewegungen über das Holzstück, das er mit der anderen Hand fest hielt.

      Sie saß gefangen zwischen seinen Armen, spürte seinen Atem auf der Wange und den steifen, kratzenden Stoff des karierten Hemdes auf den nackten Armen. Der Gorilla umarmte sie von hinten! Wenn die anderen sie jetzt sehen könnten. Sie verschwand fast in seiner Umarmung. Aber sie hatte keine Angst mehr. Sie fühlte sich seltsam ruhig. Ihr schien plötzlich Nikolai mit all seinen märchenhaften Figuren ein ganz anderer zu sein als der halb irre Gorilla, der auf der Treppe gesessen und die Kinder angebrüllt hatte, wenn sie um sein Haus schlichen. Sie dachte an nichts anderes als an das große Wunder, das unter ihren Händen Gestalt annahm, unter ihren und seinen Händen. Ein Bärenjunges mit struppigem Fell und großen Tatzen entstand aus dem harten, bleichen Holzstück.

      Er legte die Arbeit beiseite, und sie blieben nebeneinander auf dem Hocker sitzen, ohne etwas zu sagen.

      »Hast du das von deinem Vater gelernt?«, fragte Maja schließlich, um die Stille zu unterbrechen.

      »Ich habe nie einen Vater gehabt«, sagte Nikolai nach einer Weile. Sie wollte eigentlich weiterfragen, traute sich aber nicht. Es war etwas Seltsames in seiner Stimme und sie schwieg lieber.

      Er nahm das Messer und begann erneut, an dem kleinen Tier zu schnitzen. Er schien vergessen zu haben, dass sie noch da war. Sie saß still auf dem Hocker neben ihm und verfolgte seine flinken, geübten Hände.

      Nach einer Weile stand sie auf, um zu gehen. An der Tür drehte sie sich um und betrachtete die große Gestalt, die, über die Arbeit gebeugt, dasaß. Das Licht der Lampe warf einen rosa Schein über sein Gesicht, das von der dichten weißen Mähne auf seinem Kopf eingerahmt wurde. Das schneeweiße Haar bekam rosa und goldene Streifen.

      Sie verstand nicht, wie sie ihn jemals mit einem Gorilla hatte vergleichen können. Er sah eher wie ein gemütlicher, alter Opa aus.

      Sie drückte die Klinke nieder.

      »Danke für deine Hilfe«, sagte sie. Doch er hörte und sah sie nicht. Das kleine Zimmer mit all den Figuren erschien ihr wie die Werkstatt eines Zauberers. Gleich würde er dem Bärenjungen, das er in Händen hielt, den Odem des Lebens einhauchen.

      Sie zog die Tür vorsichtig hinter sich zu und humpelte durch den Regen zu ihrem kaputten Fahrrad.

      2. Kapitel

      »Wir fahren jetzt, Maja«, rief die Mutter ungeduldig.

      Maja saß auf dem Bett und war sauer. Ihre Hände spielten mit einer kleinen Bärenfigur. Sie fuhr mit den Fingernägeln an den Furchen in dem harten Holz entlang.

      Die Mutter rief erneut: »Vergiss nicht, das Fenster zu schließen!«

      Maja stellte das Bärenjunge mit einem Knall beiseite, stand vom Bett auf und warf das Fenster so schwungvoll zu, dass die Scheiben klirrten. Sie hoffte, dass Mama es hörte. Sie musste mitfahren zum Flughafen, um Wenke, Carl sowie deren Sohn Jano abzuholen. Wenke war die beste Freundin ihrer Mutter. Sie kannten sich seit frühester Kindheit, waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen. Jetzt wohnten Wenke und Carl in Bodø. Sie wollten gemeinsam mit Mama und Papa in Venedig Ferien machen, und Jano, oder Jan Olav, wie er eigentlich hieß, sollte bei ihr wohnen, während die Eltern im Ausland waren.

      Maja seufzte tief. Ein toller Plan. Vierzehn kostbare Tage der Sommerferien mit dem hoffnungslosen »Propeller« vergeuden. Eine