Inger Frimansson

Tiefe Schreie


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      Aber vermutlich hatten weder Jakob noch Josefina schauspielerisches Talent. Deshalb klang es nie natürlich, so gut es auch geschrieben sein mochte.

      Er schrieb ein Stück über einen kopflosen Mann, der nach seiner Erinnerung suchte. Jakob sollte den Mann spielen, Josefina wand sich vor Lachen, als sie ihn ins Zimmer schlurfen sah. Sie versuchte ihr Lachen zu unterdrücken, sie sah, dass Johan sauer wurde, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Sie selbst sollte auch auftreten, und zwar als der Tod. Sie lieh sich einen Schal von Johans Mutter und nahm einen Zollstock als Sense. Geplant war, dass sie die Sense schwingen sollte, als würde sie Leichen ernten, aber jedes Mal, wenn sie das tat, klappte der Zollstock so albern zusammen, dass sie kichern musste. Sie lachte, dass ihr ganz heiß wurde, sie versuchte sich in den Arm zu kneifen, aber es nützte nichts.

      Schließlich lachten sie alle drei. Sie fielen mitten in Johans Zimmer zu Boden, ein großer bebender Haufen.

      Sie hielt viel von ihm. Schrecklich viel.

      Sein braunes Haar mit Mittelscheitel, die blauen Augen, die fast immer fröhlich waren, die Dinge registrierten und aufnahmen. Dinge, die er später benutzen konnte. In seinen Texten.

      – 6 –

      Tante Hessli wartete in der Ankunftshalle. Ihr Gesicht war sonnengebräunt, die Lippen rot und aufgeworfen. Die Schule war für heute beendet. Tante Hessli war Lehrerin. Eigene Kinder hatte sie zu ihrem großen Kummer nie bekommen. Sie wohnte mit Onkel Bosse auf einem Hof nahe am Meer. Statt mit Kindern umgaben die beiden sich mit Tieren aller Art. Ein paar Schafe, Wellensittiche, Hühner, drei Islandpferde und ein Hund.

      Tante Hessli drückte Josefina fest und lange, sie roch nach Zimt, das war irgend so ein Parfüm, das sie benutzte. Sie hatte schon immer so gerochen, ein Duft nach Wärme und Sicherheit.

      »Wir werden uns schon um dich kümmern, meine Kleine«, flüsterte sie. »So was sollte niemand mitmachen müssen.«

      Josefina fühlte, wie sich die Worte wie Steine in ihren Magen legten. Sie kniff die Lippen zusammen, sie schwieg.

      Sie bekam das Zimmer, das sie immer bewohnte, ein sonniges Zimmer mit gelben Tapeten und mit Möbeln, die ganz in Weiß gehalten waren. Die Möbel hatte Tante Hessli schon gehabt, als sie selbst ein Teenager war. Ein Sofa mit Holzlehne, das ausgezogen und als Bett benutzt werden konnte, ein Schreibtisch, ein Bücherregal voller Bücher, zwei Stühle und ein Schemel, der in dicken, unebenen Lagen bemalt war. Ein Hund kam ihnen entgegengesprungen, eifrig mit dem Schwanz wedelnd. Josefina kannte ihn nicht. Er hieß Nicke. Er war eine Mischung aus Cockerspaniel und Zwergcollie. Er war struppig und schwarz. Josefinas Vater beugte sich runter und strich ihm über die Ohren.

      »Wo ist der andere Hund, den ihr hattet?«, fragte er. »Der braune.«

      »Ach, die alte Sunni hat das Zeitliche gesegnet«, sagte Tante Hessli. »Sie liegt draußen unter einem Baum begraben. Was habe ich damals geheult! Wir hatten sie vierzehn Jahre lang.« Sunni tot. Sunni, die immer da gewesen war, so lange sie denken konnte. Josefina hörte es, die Worte drangen in sie ein, aber nur als Worte, als aneinander gereihte Buchstaben, leere Hülsen.

      Die alte Sunni ist tot. Tot wie ein Brot. Ganz rot.

      Mama hob die Hände und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.

      »Ja, ich erinnere mich noch daran, wie ihr sie gekriegt habt, Josefina war so klein, sie riss kräftig an ihrem Fell, aber der Hund schien zu verstehen, dass sie einfach zu klein war, um es besser zu wissen.«

      »Sunni war ein kluger Hund«, sagte Tante Hessli. »Wir vermissen sie sehr. Aber so ist nun einmal der Lauf des Lebens. Man muss die Dinge hinnehmen. Jetzt haben wir stattdessen Nicke. Sunni hatte zuletzt große Probleme mit dem Laufen, man konnte ihr richtig ansehen, wie sie litt. Schließlich mussten wir uns einfach einen Stoß geben und den Tierarzt anrufen. Der kam eines schönen Morgens und hat ihr eine Spritze gegeben. Sie ist so lieb eingeschlafen, mit dem Kopf auf meinem Knie.«

      Mama bekam feuchte Augen.

      »Ich könnte nie ein Tier haben. Es würde mich viel zu sehr mitnehmen, wenn es krank werden und dann auch noch sterben würde.«

      »Du warst schon immer eine kleine Zimperliese«, lachte Tante Hessli.

      Über Nicke erzählte sie, dass er eigentlich gar nicht hatte leben sollen.

      »Er ist ja eine Promenadenmischung, und Herrchen und Frauchen seiner Mutter waren stinksauer, als sie merkten, dass Junge unterwegs waren. Aber sie konnten alle unterbringen, außer diesem kleinen Frechdachs. Deshalb wollten sie ihn in die ewigen Jagdgründe schicken. Aber da bin ich eingeschritten, Estrid Birgitta Sanström.«

      Ihre Schwester starrte sie an.

      »Wollten die ein kleines Hundebaby umbringen?«

      »Ach, du weißt doch, wie die Leute hier auf dem Lande sind. Sie haben ein Herz aus Stein.«

      Josefina lag auf dem Sofa, das jetzt zum Bett umgebaut war. Hier hatte sie jeden Sommer gelegen, so lange sie sich erinnern konnte. Sie schaute die beiden Bilder an, zwei runde Mädchengesichter, ernst, aber dennoch lächelnd. Als sie noch klein war, hatte sie sich vorgestellt, es wären ihre heimlichen Freundinnen. Sie hatte sogar Namen für sie, Gertrud und Sofi, die eine dunkelhaarig, die andere blond. Für die beiden stand die Welt still. Sie sahen genauso aus, wie sie immer ausgesehen hatten.

      Nur für Josefina war alles verändert.

      Die Erwachsenen hatten sie in Ruhe gelassen. Von unten, durch den Boden hindurch, konnte sie ihre Stimmen wie ein leises, an- und abschwellendes Gemurmel hören. Sicher redeten sie jetzt über sie. Überlegten, was sie mit ihr machen sollten. Aber es gab nichts mit ihr zu machen. Sie wünschte sich, ihre Eltern würden bald nach Hause fahren.

      Das Einzige, was sie wollte, war, in Ruhe gelassen zu werden.

      Nach dem, was passiert war, hatte Kristina oft angerufen. Zu Anfang rief sie jeden Tag an, dann wurde es seltener. Kristina war ihre beste Freundin. Sie hatten einander so nahe gestanden. Sie hatten sich große Schwester und kleine Schwester genannt. Kristina war im April geboren, Josefina am St.-Anna-Tag im Dezember. Beide waren Einzelkinder.

      Kristina hatte jetzt einen Freund, Martin, da war nicht mehr so viel Zeit zum Klönen. Sie hatten darüber geredet, wir sind ja jetzt beide mit einem zusammen, hatte Kristina gesagt, da müssen wir uns wohl erst mal eine Weile vor allem um unsere Typen kümmern. Wir wissen ja, dass wir immer füreinander da sind, dass wir für alle Zeiten Schwestern bleiben werden. Oder nicht, Josefina, das ist doch so, nichts kann zwischen uns kommen, oder? Auch nicht, wenn wir erwachsen sind und das Haus voller Kinder haben. Wir werden doch nie, niemals den Kontakt zueinander abbrechen? Nicht wahr?

      Kristina war nicht auf dem Klassenfest gewesen. Sie hatte in der Woche mit Grippe im Bett gelegen. Das ließ sie etwas abseits stehen.

      Am Telefon klang sie verschnupft, sie sprach durch die Nase. »Deine Mutter sagt, du hättest einen Schock, kleine Schwester, stimmt das? Ach, ich mache mir solche Sorgen um dich.« Plötzlich klang das mit der Schwester so albern.

      »Ich will einfach nur nicht drüber reden.«

      »Aber genau das muss man tun, man muss reden, man muss das loswerden.«

      Sicher hatten ihre Psychologeneltern ihr solche Phrasen eingetrichtert. Dass man reden musste.

      Josefina wollte nicht reden.

      Kristina verstand das nicht.

      »Wie schrecklich, das mit Johan, wie furchtbar, so ein netter, sympathischer Junge!«

      »Ich fahre für eine Weile weg.«

      »Hast du ihn gesehen? Glaubst du, dass er wieder ganz gesund wird?«

      »Ich will nicht darüber reden, das habe ich doch gesagt.«

      »Nein, schon gut.«

      »Übrigens – hast du nicht zugehört? Ich fahre für eine Weile weg, habe ich gesagt.«

      »Wohin