Charles Dickens

Oliver Twist


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die es erfordern mochte, dass sie sich sorgfältiger als gewöhnlich ankleideten. Der Baldoberer gebot Oliver, ihm die Stiefeln zu reinigen, und Oliver war froh, nur einmal Menschen zu sehen und sich nützlich machen zu können, wenn es ohne Verletzung der Redlichkeit geschehen konnte. Während er beschäftigt war, dem Geheiss Folge zu leisten, wobei Jack auf einem Tische sass, blickte der junge Gentleman zu ihm hernieder, seufzte und sagte halb zerstreut und halb zu Charley Bates:

      „’S ist doch Jammer und Schade, dass er kein Kochemer ist.“

      „Ah,“ sagte Charley Bates, „er weiss nicht, was ihm gut ist.“

      „Du weisst wol nicht mal, Oliver, was ein Kochemer ist?“ fragte der Baldoberer.

      „Ich glaube es zu wissen,“ erwiderte Oliver schüchtern; „ein Dieb — bist du nicht ein Dieb?“

      „Ja,“ sagte Jack, „und ich rechn’ es mir zur Ehre. Ich bin ä Dieb; Charley ist’s, Fagin ist’s, Sikes ist’s; Nancy und Betsy sind gleichfalls Diebinnen. Wir sind sammt und sonders Diebe, bis herunter zu Sikes Hund, und der geht noch über uns Alle.“

      „Und ist kein Angeber,“ bemerkte Charley Bates.

      „Er würde in der Zeugenloge nicht mal bellen, um sich nicht zu verrathen oder zu verwickeln,“ fuhr Jack fort. „Doch das hat nichts zu schaffen mit unserm Musjö Grün.“

      „Warum begibst du dich nicht unter Fagin, Oliver?“ fiel Charley ein.

      „Könntest doch dein Glück so schön machen,“ setzte Jack hinzu, „und von deinem Gelde leben wie ein Gentleman, wie ich’s zu thun denke im nächstkommenden fünften Schaltjahr und am zweiundvierzigsten Dienstag in der Fastenwoche.“

      „Es gefällt mir nicht,“ sagte Oliver furchtsam. „Ich wollte, dass Fagin mich fortgehen liesse.“

      „Das wird Fagin bleiben lassen,“ bemerkte Charley.

      Oliver wusste dies nur zu gut, meinte, es möchte gefährlich sein, seine Gedanken noch offener auszusprechen, und fuhr seufzend in seinem Geschäfte fort.

      „Schäme dich!“ hub der Baldoberer wieder an. „Hast du denn gar kein Ehrgefühl? Ich möchte um nichts in der Welt meinen Freunden zur Last fallen, am wenigsten ohne ’nen Finger zu rühren, um ihnen zum wenigsten meine Erkenntlichkeit zu beweisen.“

      „Es ist wahrhaftig zu gemein und niedrig,“ sagte Charley Bates, einige seidene Taschentücher hervorziehend und in eine Commode legend.

      „Es wäre mir ganz unmöglich!“ rief Jack Dawkins, sich in die Brust werfend, aus.

      „Und doch könnt ihr eure Freunde im Stich lassen,“ bemerkte Oliver mit einem halben Lächeln, „und zusehen, dass sie für Dinge bestraft werden, die ihr gethan habt.“

      „Es geschah blos aus Rücksicht gegen Fagin,“ erwiderte Jack kaltblütig. „Die Schoderer (Gerichtsdiener) wissen, dass wir gemeinschaftlich arbeiten, und er hätte in Ungelegenheit kommen können, wenn wir nicht davongelaufen wären. Schau hier,“ setzte er hinzu, griff in die Tasche und zeigte Oliver eine Handvoll Schillinge und Halbpence. „Wir führen ä flottes Leben, und was thut’s, woher das Geld dazu kommt? Da, nimm hin; wo’s her ist, da ist noch mehr von der Sorte. Du willst nicht? O Dümmling, Dümmling aller Dümmlinge!“

      „Er ist ä Bösewicht, nicht wahr, Oliver?“ fiel Charley Bates ein. „Er wird noch geschnürt werden, nicht wahr?“

      „Ich weiss nicht, was das ist,“ sagte Oliver.

      Charley Bates nahm sein Taschentuch, knüpfte es sich um den Hals, und stellte die Hängoperation pantomimisch und vollkommen kunstgerecht dar. „Das ist’s,“ sagte er endlich unter schallendem Gelächter.

      „Du bist schlecht erzogen,“ bemerkte Jack Dawkins ernsthaft; „indess wird Fagin doch schon noch etwas aus dir machen, oder du wärst der Erste, der sich ganz unbrauchbar gezeigt. Also fang’ nur je eher desto lieber an, denn du wirst mitarbeiten im Geschäft, eh’ du’s meinst, und verlierst nur Zeit, Oliver.“

      Charley Bates fügte noch mehrere moralische Betrachtungen hinzu, schilderte mit glühenden Farben die zahllosen Annehmlichkeiten des Lebens, das er und Jack führte, und bemühete sich mit einem Worte auf das Eifrigste, Oliver zu überzeugen, dass er nichts Besseres thun könne, als baldmöglichst um Fagin’s Gunst durch dieselben Mittel zu werben, die er und Jack zum gleichen Zwecke angewendet.

      „Und vor allen Dingen, Nolly (Oliver),“ sagte Jack, als sie den Juden kommen hörten, „bedenk’ das: nimmst du keine Schneichen und Zwiebeln —“

      „Was hilft’s, dass du so zu ihm redest?“ unterbrach Charley; „weiss er doch nicht, was du damit sagen willst!“

      „Nimmst du keine Taschentücher und Uhren,“ fuhr der Baldoberer, zu Oliver’s Fassungskraft sich herablassend, fort, „so thut’s ein guter Anderer, und der hat was davon, und du hast nischt, da du doch ein eben so gutes Recht dazu hast.“

      „’S ist ganz klar — ja ja — ganz klar,“ sagte der Jude, der unbemerkt von Oliver eingetreten war, „klar wie die Sonne, mein Kind. Glaub’ dem Baldoberer; er kennt den Katechism seines Geschäfts auf’s Haar.“

      Das Gespräch wurde indess für jetzt abgebrochen, da Fagin mit Miss Betsy und einem Gentleman angelangt war, den Oliver noch nicht gesehen hatte, und den der Baldoberer Tom Chitling nannte, als er eintrat, nachdem er draussen ein wenig verweilt, um mit der Dame einige Galanterien zu wechseln.

      Tom Chitling war älter an Jahren, als der Baldoberer, da er etwa achtzehn Winter zählen mochte, bezeigte demselben aber eine Ehrerbietung, woraus man klärlich ersah, dass er sich bewusst war, an Genie und Geschäftsfähigkeit ihm untergeordnet zu sein. Er hatte kleine blinzelnde Augen und ein pockennarbiges Gesicht, und trug eine Pelzkappe, ein dunkles Corduroywamms, fettige Barchenthosen und eine Schürze. Er sah in der That ziemlich abgerissen aus, entschuldigte sich jedoch bei der Gesellschaft damit, dass „seine Zeit“ erst seit einer Stunde aus gewesen sei, dass er seine Uniform sechs Wochen getragen, und noch nicht daran habe denken können, die Garderobe zu wechseln. Er schloss mit der Bemerkung, dass er zweiundvierzig Tage angestrengt gearbeitet, und „bersten wolle, wenn er in der ganzen Zeit ’nen Tropfen gekostet und nicht so trocken sei wie ein Sandfass.“

      „Was meinst du, Oliver, woher der junge Mensch wol kömmt?“ fragte der Jude greinend, während Charley eine Branutweinflasche auf den Tisch stellte.

      „Ich — ich kann’s nicht sagen, Sir,“ erwiderte Oliver.

      „Wer ist denn der?“ fragte Tom Chitling, Oliver verächtlich anblickend.

      „Ein junger Freund von mir, mein Lieber,“ antwortete Fagin.

      „Dann hat er’s gut genug,“ bemerkte Tom, dem Juden einen bedeutsamen Blick zuwerfend. „Kümmre dich nicht darum, Bursch, woher ich komme; es gilt ’ne Krone, wirst bald genug selber da sein!“

      Es wurde gelacht, Fagin flüsterte mit Tom, Alle versammelten sich am Kamine, der Jude forderte Oliver auf, sich zu ihm zu setzen, und lenkte das Gespräch auf Gegenstände, von welchen er erwarten konnte, dass seine Zuhörer den lebhaftesten Antheil daran nehmen würden; nämlich die grossen Vortheile des Geschäfts, die Talente des Baldoberers, die Liebenswürdigkeit Charley’s und die Freigebigkeit Fagin’s. Als sie erschöpft waren und Tom Chitling gleichfalls. Zeichen der Erschöpftheit an den Tag legte (denn das Besserungshaus ermüdet sehr nach einigen Wochen), entfernte sich Miss Betsy, und die Uebrigen begaben sich zur Ruhe.

      Von diesem Tage an wurde Oliver nur noch selten allein gelassen, und in eine fortwährend enge Verbindung mit Jack und Charley gebracht, die mit dem Juden täglich das alte Spiel spielten — Fagin wusste am besten, ob zu ihrer eigenen, oder Oliver’s Belehrung und Vervollkommnung. Zu anderen Zeiten erzählte ihnen Fagin Geschichten von Diebstählen und Räubereien, die er in seinen jüngeren Tagen begangen, und mischte so viel Merkwürdiges, Spasshaftes und Drolliges ein, dass Oliver sich oft nicht enthalten konnte, herzlich zu lachen und den Beweis zu liefern, dass er trotz seiner besseren