Norton Juster

Die Abenteuer von Milo, Tack und Kackerlack


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den gesamten Platz verteilt auf dem Boden lagen.

      Die Biene, die sich in einem der vielen Wimpel verheddert hatte, purzelte zu Boden, wobei sie Milo umwarf, der sie unter sich begrub.

      »Igitt!!«, schrie sie. »Auf mir sitzt ein kleiner Junge!« Der Kackerlack lag rücklings und völlig derangiert auf einem Berg zerquetschter Buchstaben, und Tack, dessen Alarmglocke ohne Unterbrechung schrillte, war unter einer Ansammlung unzusammenhängender Worte vergraben. Der Buchstabenmann hockte auf einer der leeren Kisten und stöhnte: »Mir fehlen die Worte.«

      5. ÜBER KURZ ODER LANG

      »Macht euch bloß an, was ihr geschaut habt«, schrie einer der Händler verärgert. Eigentlich hatte er »Schaut euch bloß an, was ihr gemacht habt« sagen wollen, aber die Worte lagen so wild verteilt herum, dass niemand die richtigen finden konnte.

      »Tun wir bloß jetzt sollen was!«, klagte ein anderer, während man sich überall bemühte, die Dinge irgendwie wieder in Ordnung zu bringen.

      Eine Zeit lang brachte niemand auch nur einen verständlichen Satz zustande, und das Tohuwabohu wurde immer größer. Doch dann fing man an, die Marktstände so schnell wie möglich wiederaufzurichten, und fegte die Wörter zu einem riesigen Haufen zusammen, aus dem jeder sich die seinen herausfischen konnte.

      Die Buchstabiene war beleidigt davongeflogen, und Milo hatte sich gerade wieder aufgerappelt, da traf das gesamte Polizeiaufgebot von Wortopolis ein und blies heftig in die Trillerpfeife.

      »Endlich! Jetzt kommt Licht ins Dunkel«, hörte Milo jemanden sagen, »da kommt Hauptwachtmeister Kurz, der sagt, wo’s langgeht.«

      Quer über den Platz stiefelte der kleinste Polizist, den Milo je gesehen hatte. Knapp siebzig Zentimeter kurz war er fast doppelt so dick und trug eine blaue Uniform mit weißem Gürtel, weiße Handschuhe, eine Schirmmütze und einen grimmigen Gesichtsausdruck. Er blies ununterbrochen in seine Trillerpfeife, so lange, bis sein Gesicht rot anlief wie eine Runkelrübe, und hörte damit nur kurz auf, um jedem, an dem er vorüberkam, »Schuldig! Schuldig! Schuldig« ins Gesicht zu brüllen.

      »So was von schuldig ist mir ja noch nie unter die Augen gekommen«, rief er, als er vor Milo zum Stehen kam. »Das wird dich teuer zu stehen kommen!« Dann wandte er sich dem immer noch laut rasselnden Tack zu und schrie: »Stell diesen Hund ab. Es ist respektlos, im Beisein der Polizei Alarm zu schlagen.«

      Er zog ein schwarzes Notizbuch aus der Jackentasche seiner Uniform und hielt den Vorfall fein säuberlich dort fest. Danach stiefelte er auf und ab, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und ließ seinen Blick über das Feld der Verwüstung schweifen.

      »Reizend, wirklich reizend.« Seine Miene verfinsterte sich. »Wer trägt hieran die Schuld?«, herrschte er die Menge an. »Heraus mit der Sprache, oder ich mach kurzen Prozess und zieh euch allen die Ohren lang.«

      Lange herrschte betretenes Schweigen. Weil niemand mitbekommen hatte, was eigentlich passiert war, machten alle bloß lange Gesichter und hoben schweigend ihre Hände, zum Beweis, dass sie nichts trugen. Weder Schuld noch irgendetwas anderes.

      »Du da«, zischte der Wachtmeister und richtete seinen Finger anklagend auf den Kackerlack, der sich gerade den Staub von den Kleidern klopfte und seinen Hut zurechtrückte, »du siehst mir höchst verdächtig aus.«

      Der Kackerlack ließ vor Schreck seinen Spazierstock fallen und antwortete nervös: »Bei meiner Ehre als Gentleman versichere ich Ihnen, Sir, dass ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe, mir nicht das Geringste habe zuschulden kommen lassen und bloß das angeregte Leben und geschäftige Treiben des Marktes genoss, als dieser junge Bursche …«

      »AHA!«, unterbrach ihn der Hauptwachtmeister Kurz und machte einen weiteren Vermerk in seinem kleinen Notizbuch. »Also da geht’s lang. Hab ich’s mir doch gleich gedacht: Es liegt wie immer an den Jungs.«

      »Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der Kackerlack, »aber ich wollte damit in keinster Weise unterstellen, dass …«

      »RUHE!«, donnerte der Hauptwachtmeister, reckte sich zu seiner vollen Kürze auf und brachte den entsetzten Kackerlack durch einen drohenden Blick zum Schweigen. »Und jetzt zu dir«, fuhr er fort und wandte sich erneut an Milo, »wo warst du am Abend des 27. Juli?«

      »Was soll das damit zu tun haben?«, fragte Milo.

      »Da ist mein Geburtstag, das soll das damit zu tun haben«, sagte der Wachtmeister und notierte Meinen Geburtstag vergessen. »Jungs vergessen alle naslang anderer Leute Geburtstag.

      Folgender Straftaten hast du dich schuldig gemacht«, fuhr er fort: »Besitz eines Hundes mit nicht genehmigter Alarmglocke, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Umsturzversuch eines gesamten Standes, was sage ich: aller Stände, fahrlässige Verwüstung, vorsätzliche Verursachung von Wortsalat, kurz …«

      »Nu mal halblang«, bellte Tack und schaute von oben auf den Wachtmeister herab.

      »… sowie Missachtung des absoluten Bellverbots!«, fuhr Kurz fort und bedachte den Hund mit einem bitterbösen Blick.

      »Unsinn«, knurrte Tack beleidigt, »ist doch eh alles bloß Belletristik!«

      »Erzähl keine Geschichten!«, herrschte der Polizist ihn an und griff erneut zu seinem Notizbuch. »Also«, sagte er und wandte sich wieder an Milo, »bist du bereit, das Urteil entgegenzunehmen?«

      »Nur Richter können Urteile sprechen«, sagte Milo, der sich daran erinnerte, das mal in einem Schulbuch gelesen zu haben.

      »Stimmt«, erwiderte der Wachtmeister, nahm kurz seine Mütze ab und zog sich eine lange schwarze Robe über. »Ich bin der Richter. Also, wie soll das Urteil ausfallen, kurz oder lang?«

      »Wenn’s geht, kurz«, sagte Milo.

      »Ausgezeichnet«, sagte der Richter, zauberte einen Holzhammer unter seiner Robe hervor und schlug damit dreimal auf eine der herumliegenden Kisten. »Lange kann ich mir sowieso schlecht merken. Wie wär’s mit ›schuldig‹. Zwei Buchstaben kürzer als ›unschuldig‹.«

      Alle nickten mit dem Kopf zum Zeichen, dass sie sein Urteil gerecht fanden.

      »Kurz und gut: Als Strafe scheinen mir 6 Millionen Jahre Gefängnis lang genug. Damit ist die Verhandlung geschlossen«, verkündete er und schlug abschließend noch einmal mit seinem Hammer auf die Kiste. »Und jetzt ab in den Kerker. Da lang …«

      »Nur Gefängniswärter sind befugt, jemand in den Kerker zu werfen«, wandte Milo ein. Auch das hatte er aus seinem Schulbuch.

      »Stimmt«, sagte der Richter, zog die Robe aus und ein großes Schlüsselbund hervor. »Es sei denn, man ist Kerkermeister. So wie ich.« Und damit führte er die beiden ab.

      »Kopf hoch«, rief der Kackerlack. »Vielleicht erlassen sie euch ja eine Million Jahre wegen guter Führung.«

      Das schwere Kerkertor schwang langsam auf, und Milo und Tack folgten Hauptwachtmeister Kurz einen Flur entlang, der bloß ab und zu kurz von einer flackernden Kerze erhellt wurde.

      »Achtung, Stufen«, warnte sie der Polizist, als sie die ersten Stufen einer steilen Wendeltreppe hinabstiegen.

      Die Luft war feuchtkalt und stickig, es roch nach alten Socken, und die dicken Steinmauern waren nass und glitschig. Sie stiegen tiefer und tiefer, bis sie an ein zweites Tor kamen, noch düsterer und schwerer als das erste. Ein Spinnennetz fuhr durch Milos Gesicht, und er erschauderte.

      »Über kurz oder lang werdet ihr euch hier sicher wohlfühlen«, kicherte der Polizist, als er den Riegel zurückschob. »Zugegeben«, das Tor quietschte und knarrte in den Angeln, »viel Gesellschaft habt ihr nicht, hier unten. Bis auf die Diebin natürlich, die alte Heckse.«

      »Diebin? Alte Hexe?«, fragte Milo und erschrak.