hatte sie ihn für ebenso begabt gehalten wie Walter. Er war gescheit, er war logisch, er wußte viel; aber ist das mehr als Barbarei? Er hatte allerdings früher unvergleichlich besser Tennis gespielt als Walter, und sie konnte sich erinnern, bei seinen rücksichtslosen Schlägen manchmal so heftig empfunden zu haben, der wird erreichen, was er will, wie sie es nie vor Walters Malerei, Musik oder Gedanken empfand. Und sie dachte: «Vielleicht weiß er doch alles von uns und sagt nichts!?» Schließlich hatte er ja vorhin ganz deutlich auf ihre Heldenhaftigkeit angespielt. Dieses Schweigen zwischen ihnen war nun ungemein spannend.
Aber Ulrich dächte: «Wie nett war Clarisse doch vor zehn Jahren gewesen; dieses halbe Kind mit seiner Feuersbrunst des Glaubens an die Zukunft von uns dreien.» Und unangenehm war sie ihm eigentlich nur ein einzigesmal geworden, damals, als Walter und sie geheiratet hatten; da hatte sie jene unangenehme Selbstsucht zu zweien gezeigt, die junge, in ihren Mann ehrgeizig verliebte Frauen für andere Männer oft so unerträglich macht. «Inzwischen ist das viel besser geworden» dachte er.
15
Geistiger Umsturz
Walter und er waren jung gewesen in der heute verschollenen Zeit kurz nach der letzten Jahrhundertwende, als viele Leute sich einbildeten, daß auch das Jahrhundert jung sei.
Das damals zu Grabe gegangene hatte sich in seiner zweiten Hälfte nicht gerade ausgezeichnet. Es war klug im Technischen, Kaufmännischen und in der Forschung gewesen, aber außerhalb dieser Brennpunkte seiner Energie war es still und verlogen wie ein Sumpf. Es hatte gemalt wie die Alten, gedichtet wie Goethe und Schiller und seine Häuser im Stil der Gotik und Renaissance gebaut. Die Forderung des Idealen waltete in der Art eines Polizeipräsidiums über allen Äußerungen des Lebens. Aber vermöge jenes geheimen Gesetzes, das dem Menschen keine Nachahmung erlaubt, ohne sie mit einer Übertreibung zu verknüpfen, wurde damals alles so kunstgerecht gemacht, wie es die bewunderten Vorbilder niemals zustandegebracht hätten, wovon man ja noch heute die Spuren in den Straßen und Museen sehen kann, und, ob das nun damit zusammenhängt oder nicht, die ebenso keuschen wie scheuen Frauen jener Zeit mußten Kleider von den Ohren bis zum Erdboden tragen, aber einen schwellenden Busen und ein üppiges Gesäß aufweisen. Im übrigen kennt man aus allerlei Gründen von keiner gewesenen Zeit so wenig wie von solchen drei bis fünf Jahrzehnten, die zwischen dem eigenen zwangzigsten Jahr und dem zwanzigsten Lebensjahr der Väter liegen. Es kann deshalb nützen, sich auch daran erinnern zu lassen, daß in schlechten Zeiten die schrecklichsten Häuser und Gedichte nach genau ebenso schönen Grundsätzen gemacht werden wie in den besten; daß alle Leute die daran beteiligt sind, die Erfolge eines vorangegangenen guten Abschnitts zu zerstören, das Gefühl haben, sie zu verbessern; und daß sich die blutlosen jungen Leute einer solchen Zeit auf ihr junges Blut genau so viel einbilden wie die neuen Leute in allen anderen Zeiten.
Und es ist jedesmal wie ein Wunder, wenn nach einer solchen flach dahinsinkenden Zeit plötzlich ein kleiner Anstieg der Seele kommt, wie es damals geschah. Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Allenthalben war plötzlich der rechte Mann zur Stelle; und was so wichtig ist, Männer mit praktischer Unternehmungslust fanden sich mit den geistig Unternehmungslustigen zusammen. Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkörperung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, wär so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenützte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Hause gehen ließen, aus dem man ohnehin auszieht, ohne daß sie diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten.
Wenn man nicht will, braucht man also diese vergangene «Bewegung» nicht zu überschätzen. Sie Vollzog sich ohnehin nur in jener dünnen, unbeständigen Menschenschicht der Intellektuellen, die von den heute Gott sei Dank wieder obenauf gekommenen Menschen mit unzerreißbarer Weltanschauung, trotz aller Unterschiede dieser Weltanschauung, einmütig verachtet wird, und wirkte nicht in die Menge. Aber immerhin, wenn es auch kein geschichtliches Ereignis geworden ist, ein Ereignislein war es doch, und die beiden Freunde Walter und Ulrich hatten, als sie jung waren, gerade noch einen Schimmer davon erlebt. Durch das Gewirr von Glauben ging damals etwas hindurch, wie wenn viele Bäume sich in einem Wind beugen, ein Sekten- und Besserergeist, das selige Gewissen eines Auf- und Anbruchs, eine kleine Wiedergeburt und Reformation, wie nur die besten Zeiten es kennen, und wenn man damals in die Welt eintrat, fühlte man schon an der ersten Ecke den Hauch des Geistes um die Wangen.
16
Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit
Da waren sie also wirklich vor gar nicht so langer Zeit zwei junge Männer gewesen, – dachte Ulrich, als er wieder allein war – denen die größten Erkenntnisse seltsamerweise nicht nur zuerst und vor allen anderen Menschen einfielen, sondern noch dazu gleichzeitig, denn der eine brauchte nur den Mund zu öffnen, um etwas Neues zu sagen, so machte der andere schon die gleiche ungeheure Entdeckung. Es ist etwas Sonderbares um Jugendfreundschaften; sie sind wie ein Ei, das seine herrliche Vogelzukunft schon im Dotter fühlt, aber gegen die Welt kehrt es noch nichts heraus als eine etwas ausdruckslose Eilinie, die man von keiner anderen unterscheiden kann. Er sah deutlich das Knaben- und Studentenzimmer vor sich, wo sie einander trafen, wenn er von seinen ersten Ausflügen in die Welt für ein paar Wochen zurückgekehrt war. Walters mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckten Schreibtisch, der den Glanz der Zukunft eines berühmten Mannes vorausstrahlte, und das schmale Büchergestell gegenüber, an dem Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand, Lampenlicht auf dem schönen Haar, das Ulrich immer heimlich bewundert hatte. Nietzsche, Altenberg, Dostojewski oder wen immer sie gerade gelesen hatten, mußten sich bescheiden, auf der Erde oder dem Bett liegen zu bleiben, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden und der Strom des Gesprächs die kleinliche Störung, sie ordentlich zurückzustellen, nicht duldete. Die Überhebung der Jugend, der die größten Geister gerade gut genug sind, um sich ihrer nach Belieben zu bedienen, kam ihm in diesem Augenblick wunderlich hold vor. Er suchte sich an die Gespräche zu erinnern. Sie waren wie Traum, wenn man im Erwachen noch die letzten Gedanken des Schlafs erwischt. Und er dachte mit einem leichten Staunen: wenn wir damals Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaupten! – So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen; er fühlte die Erinnerung an dieses wie auf Strahlen schwebende Gefühl der Jugend als einen schmerzlichen Verlust.
Es kam Ulrich vor, daß er beim Beginn der Mannesjahre in ein allgemeines Abflauen geraten war, das trotz gelegentlicher, rasch sich beruhigender Wirbel zu einem immer lustloseren, wirren Pulsschlag verrann. Es ließ sich kaum sagen, worin diese Veränderung bestand. Gab es mit einemmal weniger bedeutende Männer? Keineswegs! Und überdies, es kommt auf sie gar nicht an; die Höhe einer Zeit hängt nicht von ihnen ab, zum Beispiel hat weder die Ungeistigkeit der Menschen der Sechziger- und Achtzigerjahre das Werden Hebbels und Nietzsches zu unterdrücken vermocht, noch einer von diesen die Ungeistigkeit