Elternhaus und in den Zentren der Welt, in Wahrheit aber wohl auf der höheren Töchterschule als vorzügliches Lernkind angeeignet hatte, und sie fing an, ihn vorsichtig zu verwerten. Der nüchterne, aber ungemein verläßliche Verstand ihres Mannes hatte die Aufmerksamkeit unwillkürlich auch auf sie gelenkt, und sie handelte nun vollkommen arglos wie ein feuchtes Schwämmchen, welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung in sich aufgespeichert hat, indem sie, sobald sie wahrnahm, daß man ihre geistigen Vorzüge bemerkte, mit großer Freude kleine «hochgeistige» Ideen an passenden Plätzen in ihre Unterhaltung einflocht. Und allmählich, während ihr Mann weiter emporstieg, fanden sich immer mehr Leute ein, die seine Nähe suchten, und ihr Haus wurde zu einem «Salon», der in dem Ruf stand, daß «Gesellschaft und Geist» dort einander begegneten. Jetzt, im Verkehr mit Menschen, die auf verschiedenen Gebieten etwas bedeuteten, begann Diotima auch ernstlich sich selbst zu entdecken. Ihre Korrektheit, die noch immer aufpaßte wie in der Schule, das Gelernte gut behielt und es zu einer freundlichen Einheit verknüpfte, wurde geradezu von selbst zu Geist, einfach durch Erweiterung, und das Haus Tuzzi gewann eine anerkannte Stellung.
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Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen
Zu einem feststehenden Begriff wurde es aber erst durch die Freundschaft Diotimas mit Sr. Erlaucht dem Grafen Leinsdorf.
Von den Körperteilen, nach denen Freundschaften benannt werden, lag der gräflich Leinsdorfsche an einem solchen Ort zwischen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuchlich wäre. Se. Erlaucht verehrte Diotimas Geist und Schönheit, ohne sich unerlaubte Absichten zu gestatten. Durch sein Wohlwollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt.
Für seine Person war Se. Erlaucht der reichsunmittelbare Graf «nichts als Patriot». Aber der Staat besteht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, sondern es gibt in ihm außerdem noch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee! – So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andrerseits ohne Börse und Industrie ein moderner Großgrundbesitz rationell nicht zu denken ist; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, der ihm zeigte, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe ein Geschäft besser zu machen sei als an der Seite des heimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste entscheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verantwortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt. Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht, und Graf Leinsdorf war überzeugt, daß selbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht anders handeln könnte als er. Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern und die Hoffnung auszusprechen, daß das Leben zu der Einfachheit, Natürlichkeit, Übernatürlichkeit, Gesundheit und Notwendigkeit der christlichen Grundsätze wieder zurückfinden werde. Das war, sobald er zu solchen Ausführungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel herausgezogen hätte, und er floß in einem anderen Stromkreis. Übrigens geht es den meisten Menschen so, wenn sie sich öffentlich äußern; und wenn jemand Sr. Erlaucht vorgeworfen hätte, daß er für seine Person das tue, Was er in der Öffentlichkeit bekämpfe, so würde Graf Leinsdorf es mit heiliger Überzeugung als das demagogische Gerede von wieglerischen Elementen gebrandmarkt haben, die von der ausgebreiteten Verantwortlichkeit des Lebens keine Ahnung besäßen. Trotzdem erkannte er selbst, daß eine Verbindung zwischen den ewigen Wahrheiten und den Geschäften, die so viel verwickelter sind als die schöne Einfachheit der Überlieferung, eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit darstelle, und er hatte auch erkannt, daß sie nirgends anders zu suchen sei als in der vertieften bürgerlichen Bildung; mit ihren großen Gedanken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und des Schönen reichte sie bis zu den Tageskämpfen und täglichen Widersprüchen und erschien ihm wie eine Brücke aus lebendem Pflanzengewirr. Man konnte zwar nicht so fest und sicher auf ihr fußen wie auf den Dogmen der Kirche, aber es war nicht weniger notwendig und verantwortungsvoll, und aus diesem Grunde war Graf Leinsdorf nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaftlicher ziviler Idealist.
Diesen Überzeugungen Sr. Erlaucht entsprach in seiner Zusammensetzung der Salon Diotimas. Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgendeinem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte. Es gab da Kenzinisten und Kanisisten, es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß, abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die jedes Jahr die Bezeichnung wechselten und neben ihren arrivierten Fachgenossen in beschränktem Maße dort verkehren durften. Im allgemeinen war dieser Verkehr so eingerichtet, daß alles durcheinander kam und sich harmonisch mischte; nur die jungen Geister hielt Diotima gewöhnlich durch gesonderte Einladungen abseits und seltene oder besondre Gäste verstand sie unauffällig zu bevorzugen und einzurahmen. Was das Haus Diotimas vor allen ähnlichen auszeichnete, war übrigens, wenn man so sagen darf, gerade das Laienelement; jenes Element der praktisch angewandten Ideen, das sich – um mit Diotima zu sprechen – einst um den Kern der Götteswissenschaften als ein Volk von gläubig Schaffenden verteilte, eigentlich als eine Gemeinschaft von lauter Laienbrüdern und -Schwestern, kurz gesagt, das Element der Tat; – und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Nationalökonomie und Physik verdrängt worden sind und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society heranwuchs, bestanden die Laienbrüder und -Schwestern dementsprechend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerialräten und den Damen wie Herrn der hohen und der ihr angeschlossenen Gesellschaft. Besonders die Frauen ließ Diotima sich angelegen sein, aber sie bevorzugte dabei die «Damen» vor den «Intellektuellen». «Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet,» pflegte sie zu sagen «als daß wir auf die ‹ungebrochene Frau› verzichten dürften.» Sie war überzeugt, daß nur die ungebrochene Frau noch jene Schicksalsmacht besitze, die den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen vermöge, was dieser ihrer Ansicht nach zu seiner Erlösung offenbar sehr nötig hatte. Diese Auffassung von der umschlingenden Frau und der Kraft des Seins wurde ihr übrigens auch von dem männlichen jungen Adel, der bei ihr verkehrte, weil es als Gepflogenheit galt und Sektionschef Tuzzi nicht unbeliebt war, hoch angerechnet; denn das unzersplitterte Sein ist nun einmal etwas für den Adel, und im besonderen war das Haus Tuzzi, wo man sich paarweise in Gespräche vertiefen durfte, ohne aufzufallen, für liebende Zusammenkünfte und lange Aussprachen, ohne daß Diotima das ahnte, noch viel beliebter als eine Kirche.
Se. Erlaucht Graf Leinsdorf umfaßte diese zwei in sich so vielfältigen Elemente, die sich bei Diotima mischten, wenn er sie nicht gerade die «wahre Vornehmheit» nannte, mit der Bezeichnung «Besitz und Bildung»; noch lieber verwandte er aber für sie jene Vorstellung «Amt», die in seinem Denken einen bevorzugten Platz einnahm. Er vertrat die Auffassung, daß jede Leistung – nicht nur die eines Beamten, sondern ebensogut die eines Fabrikarbeiters oder eines Konzertsängers – ein Amt darstelle. «Jeder Mensch» pflegte er zu sagen «besitzt ein Amt im Staate; der Arbeiter, der Fürst, der Handwerker sind Beamte!»; es war dies ein Ausfluß seines stets und unter allen Umständen sachlichen Denkens, das keine Protektion kannte, und in seinen Äugen erfüllten auch die Herrn und Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte oder der Plättchenfrage plauderten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfinanz ansahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt. Dieser Begriff Amt ersetzte ihm das, was Diotima