das war es, was er auch in seinen Briefen beschrieb, und sonst nichts. Es war eine völlig veränderte Gestalt des Lebens; nicht in den Brennpunkt der gewöhnlichen Aufmerksamkeit gestellt, von der Schärfe befreit und so gesehen, eher ein wenig zerstreut und verschwommen war alles, was zu ihr gehörte; aber offenbar wurde es von anderen Zentren aus wieder mit zarter Sicherheit und Klarheit erfüllt. Denn alle Fragen und Vorkommnisse des Lebens nahmen eine unvergleichliche Milde, Weichheit und Ruhe an und zugleich eine gänzlich veränderte Bedeutung. Lief da zum Beispiel ein Käfer an der Hand des Denkenden vorbei, so war das nicht ein Näherkommen, Vorbeigehn und Entfernen, und es war nicht Käfer und Mensch, sondern es war ein unbeschreiblich das Herz rührendes Geschehen, ja nicht einmal ein Geschehen, sondern obgleich es geschah, ein Zustand. Und mit Hilfe solcher stillen Erfahrungen erhielt alles, was sonst das gewöhnliche Leben ausmacht, eine umstürzende Bedeutung, wo immer Ulrich damit zu tun bekam. Auch seine Liebe zu der Frau Major nahm in diesem Zustand rasch die ihr vorherbestimmte Gestalt an. Er suchte sich manchmal die Frau, an die er unablässig dachte, vorzustellen und sich einzubilden, was sie im gleichen Augenblick tun möge, worin er durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände mächtig unterstützt wurde; aber sowie es gelang und er die Geliebte vor Augen sah, wurde sein so unendlich hellsichtig gewordenes Gefühl blind, und er mußte sich bemühen, ihr Bild rasch wieder auf die selige Gewißheit des Irgendwo-für-ihn-daseins einer großen Geliebten zu ermäßigen. Es dauerte nicht lange, da war sie ganz zum unpersönlichen Kraftzentrum, zum versenkten Dynamo seiner Erleuchtungsanlage geworden, und er schrieb ihr einen letzten Brief, worin er ihr auseinandersetzte, daß das große Zu-Liebe-leben eigentlich gar nichts mit Besitz und dem Wunsche Seimein zu tun habe, die aus der Sphäre des Sparens, Aneignens und der Freßsucht stammten. Das war der einzige Brief, den er abschickte, und ungefähr der Höhepunkt seiner Liebeskrankheit gewesen, auf den bald deren Ende und plötzlicher Abbruch folgte.
33
Bruch mit Bonadea
Bonadea hatte sich inzwischen, da sie nicht dauernd gegen die Zimmerdecke schauen konnte, am Diwan auf den Rücken gestreckt, ihr zarter mütterlicher Bauch atmete im weißen Batist unbeengt von Schnürleib und Bunden; sie nannte diese Lage: Nachdenken. Es fuhr ihr durch den Sinn, daß ihr Mann nicht nur Richter, sondern auch Jäger sei und zuweilen mit funkelnden Augen vom Raubzeug spreche, welches das Wild verfolge; es schien ihr, daß daraus etwas sowohl zugunsten Moosbruggers wie auch seiner Richter folgen müsse. Andererseits wünschte sie aber nicht, ihren Mann von ihrem Geliebten ins Unrecht setzen zu lassen, außer in dem einen Punkt der Liebe; ihr Familiengefühl forderte, den Hausvorstand würdig und geachtet zu sehn. So kam sie zu keinem Entschluß. Und während dieser Gegensatz wie zwei ungestalt ineinander fließende Wolkenzüge ihren Horizont schläfrig verfinsterte, genoß Ulrich die Freiheit, seinen Gedanken nachzuhängen. Das hatte nun freilich etwas lang gedauert, und weil Bonadea nichts eingefallen war, das der Angelegenheit eine Wendung hätte geben können, kehrte ihr Gram darüber, daß Ulrich sie achtlos beleidigt habe, wieder zurück, und die Zeit, die er verstreichen ließ, ohne es gutzumachen, begann erregend auf ihr zu lasten. «Du findest also, daß ich Unrecht tue, wenn ich dich besuche?» Diese Frage richtete sie schließlich langsam und betont an ihn, traurig, aber mit gesammeltem Kampfwillen.
Ulrich schwieg und zuckte die Achseln; er wußte längst nicht mehr, wovon sie sprach, aber er fand es unmöglich, sie in diesem Augenblick zu ertragen.
«Du bist wirklich imstande, mir Vorwürfe zu machen, wegen unserer Leidenschaft??»
«An jeder solchen Frage hängen so viel Antworten, wie Bienen in einem Stock sind» antwortete Ulrich. «Die ganze seelische Unordnung der Menschheit, mit ihren niemals erledigten Fragen, hängt in einer ekelhaften Weise an jeder einzelnen.» Damit sagte er nun freilich nichts anderes, als er an diesem Tage schon einigemale gedacht hatte; aber Bonadea bezog die seelische Unordnung auf sich und fand, daß dies zuviel sei. Sie hätte gerne die Vorhänge wieder zugezogen, um auf solche Weise diesen Zwist aus der Welt zu schaffen, aber ebenso gerne hatte sie vor Schmerz geheult. Und sie glaubte mit eineinmal zu verstehen, daß Ulrich ihrer überdrüssig geworden sei. Dank ihrer Natur hatte sie bis dahin ihre Geliebten nie anders verloren als in der Art, wie man etwas verlegt und aus den Augen verliert, wenn man selbst von etwas Neuem angezogen wird; oder in jener anderen, daß sie sich ebenso schnell von ihnen getrennt wie mit ihnen vereinigt sah, was bei allem persönlichen Ärger doch etwas von dem Walten einer höheren Kraft hatte. Ihr erstes Gefühl war darum, bei dem ruhigen Widerstand Ulrichs, alt geworden zu sein. Ihre hilflose und obszöne Lage, halb entblößt auf einem Diwan allen Beleidigungen preisgegeben zu sein, beschämte sie. Sie richtete sich ohne Besinnen auf und ergriff ihre Kleider. Aber das Raschelnde, Rauschende der seidenen Kelche, in die sie zurückschlüpfte, bewog Ulrich nicht zur Reue. Der stechende Schmerz der Ohnmacht saß über Bonadeas Augen. «Er ist roh, er hat mich mit Absicht verletzt!» wiederholte sie sich. «Er rührt sich nicht!» stellte sie fest. Und mit jedem Band, das sie knüpfte, und jedem Haken, den sie schloß, sank sie tiefer in den abgrundschwarzen Brunnen dieses lang vergessenen Kinderschmerzes, verlassen zu sein. Finsternis zog ringsum auf; Ulrichs Gesicht war wie in letztem Licht zu sehen, hart und roh setzte es sich gegen das Dunkel des Kummers durch. «Wie habe ich dieses Gesicht nur lieben können?!» fragte sich Bonadea; aber zugleich krampfte ihr der Satz: «Auf ewig verloren!» die ganze Brust zusammen.
Ulrich, der ihren Beschluß, nicht wiederzukehren, ahnend erriet, hinderte ihn nicht. Bonadea strich nun mit kräftiger Bewegung das Haar vor dem Spiegel zurecht, dann setzte sie den Hut auf und band den Schleier. Jetzt war, da der Schleier vor dem Gesicht saß, alles vorbei; das war feierlich wie ein Todesurteil oder wie wenn ein Reisekoffer ins Schloß schnappt. Er sollte sie nicht mehr küssen und nicht ahnen, daß er die letzte Gelegenheit, es zu dürfen, versäume!
Sie wäre ihm deshalb beinahe vor Mitleid um den Hals gefallen und hätte sich daran ausgeweint.
34
Ein heißer Strahl und erkaltete Wände
Als Ulrich Bonadea hinunterbegleitet hatte und wieder allein war, hatte er keine Lust mehr, weiterzuarbeiten. Er ging auf die Straße hinaus, mit dem Vorsatz, Walter und Clarisse einen Boten mit einigen Zeilen zu schicken und ihnen seinen Besuch für den Abend anzukündigen. Als er die kleine Halle durchschritt, bemerkte er an der Wand ein Hirschgeweih, das hatte eine ähnliche Bewegung in sich wie Bonadea, während sie vor dem Spiegel den Schleier gebunden hatte; nur lächelte es nicht verzichtend vor sich hin. Er blickte umher, seine Umgebung betrachtend. Alle diese Olinien, Kreuzlinien, Geraden, Schwünge und Geflechte, aus denen sich eine Wohnungseinrichtung zusammensetzt und die sich um ihn angehäuft hatten, waren weder Natur noch innere Notwendigkeit, sondern starrten bis ins Einzelne von barocker Überüppigkeit. Der Strom und Herzschlag, der beständig durch alle Dinge unserer Umgebung fließt, hatte einen Augenblick ausgesetzt. Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit; ich sehe nicht wesentlich anders aus als das Gesicht eines Lupuskranken, wenn man mich ohne Vorurteil betrachtet, gestand die Schönheit. Im Grunde gehörte gar nicht viel dazu; ein Firnis war abgefallen, eine Suggestion hatte sich gelöst, ein Zug von Gewohnheit, Erwartung und Spannung war abgerissen, ein fließendes, geheimes Gleichgewicht zwischen Gefühl und Welt war eine Sekunde lang beunruhigt worden. Alles, was man fühlt und tut, geschieht irgendwie «in der Richtung des Lebens», und die kleinste Bewegung aus dieser Richtung hinaus ist schwer oder erschreckend. Das ist schon genau so, wenn man einfach nur geht: man hebt den Schwerpunkt, schiebt ihn vor und läßt ihn fallen; aber eine Kleinigkeit daran verändert, ein bißchen Scheu vor diesem Sich-in-die-Zukunft-Fallenlassen oder bloß Verwunderung darüber – und man kann nicht mehr aufrecht stehn! Man darf nicht darüber nachdenken. Und Ulrich fiel ein, daß alle Augenblicke, die in seinem Leben etwas Entscheidendes bedeuteten, ein ähnliches Gefühl hinterlassen hatten wie dieser.
Er winkte einem Dienstmann und übergab ihm sein Schreiben. Es war ungefähr vier Uhr Nachmittag, und er beschloß, den Weg ganz langsam zu Fuß zurückzulegen. Der Spätfrühling-Herbsttag beseligte ihn. Die Luft gor. Die Gesichter der Menschen hatten etwas von schwimmendem Schaum. Nach der eintönigen Anspannung seiner Gedanken in den letzten Tagen, fühlte er sich aus einem Kerker in ein weiches Bad versetzt. Er bemühte sich, freundlich und nachgiebig zu gehen. In einem gymnastisch durchgebildeten Körper hegt soviel Bereitschaft zu Bewegung