Rosemarie Eichinger

Das unheimliche Haus des Herrn Pasternak


Скачать книгу

und?“

      Oskar kroch ja praktisch überall hinein. Jonas verstand nicht, was daran so schlimm sein sollte.

      „Also gut“, sagte Anabel. „Ich verrate dir ein Geheimnis.“ Die beiden Kinder standen schon vor dem Gartentor. Anabel schaute sich um. Dann beugte sie sich zu ihrem Bruder hinunter. „Der Pasternak isst Haustiere.“

      Jonas kniff die Augen zusammen.

      „Menschen essen keine Haustiere“, stellte er schließlich fest und verschränkte die Arme vor der Brust.

      „Normale Menschen nicht“, sagte Anabel. „Aber Vampir-Serienmörder mit der ansteckenden Beulenpest schon.“

      Jonas verstand kein Wort. Das war ihr gleich klar. Kein Wunder! Er war gerade einmal halb so alt wie sie. Der Knirps wusste ja praktisch gar nichts. Anabel hingegen war schon richtig weltgewandt. Sie wusste, wie viel sie zahlen musste, wenn sie 14 Rosen kaufte und eine davon 65 Cent kostete. Außerdem wusste sie, wo die Zugvögel im Winter hinzogen und dass der menschliche Körper 206 Knochen hatte. Der kleinste war dabei nur drei Millimeter lang, hieß Steigbügel und steckte im Ohr. Und dass man Vogel mit V schrieb und Feder mit F, wusste sie auch. Jonas hingegen wusste nicht einmal, dass man seiner großen Schwester nicht ständig auf die Nerven gehen durfte.

      „Komm jetzt!“, sagte sie ohne weitere Erklärung und zog den kleinen Quälgeist hinter sich her. „Wir müssen Oskar auf jeden Fall schnell dort rausholen.“

      Geduckt liefen die zwei über die Straße.

      „Meinst du, wir sollen wirklich läuten?“, meinte Anabel, weil sie doch noch der Mut verließ, aber Jonas nickte eifrig. Für den Kleinen war das Ganze nur eine spannende Abwechslung.

image

      Der Klingelknopf an Herrn Pasternaks Gartentor ließ sich allerdings nicht hineindrücken.

      „Oje“, stöhnte Anabel. „Oje, oje.“

      Sie versuchte es noch einmal, doch der Knopf steckte fest. Das konnte ein Zeichen sein. Ein Zeichen, dass sie besser wieder umdrehen, nach Hause gehen und sich die Decke über den Kopf ziehen sollten.

      „Mach dir keine Sorgen! Wird schon gut gehen“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem kleinen Bruder. Sie schluckte, drückte die Gartentür auf und ging auf das Haus zu, den kleinen Jonas fest an der Hand. So fest, dass der Junge zu jammern begann, bis Anabel ihren Griff etwas lockerte.

      Wenn sie sich umdrehte, konnte sie vor lauter Bäumen und Gestrüpp das Gartentor kaum mehr sehen. Ebenso wenig ihr Zuhause, wo die Eltern noch friedlich schliefen, nichts ahnend, dass ihre Kinder nur noch ein paar Schritte von dem unheimlichen Nachbarn entfernt waren.

      Dieser Pasternak hatte ein ganz schön großes Haus. Und jetzt, wo sie darauf zugingen, wurde es sogar immer größer. Als ob es sich vor ihnen aufplustern würde. Zehn Fenster allein auf der Seite zur Straße hin. Zehn Fenster, durch die der unheimliche Mann sie möglicherweise schon kommen sah. Zehn Fenster, aufgerissen wie gierige Augen.

      Diesen Gedanken verscheuchte Anabel aber gleich wieder. Sie senkte den Kopf und stemmte sich Schritt für Schritt gegen den Unwillen weiterzugehen. Dabei stellte sie sich Oskar vor, wie er die kleine Aufziehmaus durchs Haus jagte. Oder wie er sich immer wieder genau dann auf ihren Schulheften niederließ, wenn sie absolut keine Lust hatte, die Hausaufgaben zu machen.

      Als sie den Kopf wieder hob, standen sie vor dem Haus. Die Eingangstür hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. An vielen Stellen blätterte der Lack ab. Irgendwann hatte sie wohl einmal einen grünen Anstrich gehabt. Jetzt schaute vor allem fasriges Holz heraus.

      Anabel zögerte. Vielleicht schlief der gruselige alte Mann ja noch. Sie hatte schließlich keine Ahnung, wann gruselige alte Männer aufstanden. Im Grunde war es ja noch ziemlich früh, so früh, dass selbst die Sonne noch nicht richtig aufgestanden und die Welt noch ganz blass war. Anabel klopfte trotzdem. So zaghaft, dass nicht mal sie selber es hören konnte. Also versuchte sie es ein weiteres Mal. Diesmal stärker. Dann wartete sie, stieg von einem Fuß auf den anderen, nervös und bibbernd. So früh am Morgen war es doch ziemlich kühl.

      „Da hinein ist Oskar verschwunden“, sagte sie und zeigte Jonas das kaputte Kellerfenster.

      Dann klopfte sie ein weiteres Mal und legte das Ohr an die Tür.

      „Ich hör nichts“, sagte sie. „Und du?“

      Doch Jonas antwortete nicht. Und als Anabel sich umdrehte, war ihr kleiner Bruder verschwunden. Oder beinahe. Sie sah gerade noch seine Füße aus dem Kellerfenster ragen. Der Rest von Jonas war schon im Inneren verschwunden. Anabel stürzte zwar gleich hin, doch alles, was sie zu fassen bekam, war ein Stiefel. Ein Stiefel ohne ihren Bruder darin nützte ihr allerdings gar nichts.

image

      „Mist!“, schimpfte sie und steckte den Kopf durch das Kellerfenster.

      „Jonas!“, rief sie. Leise und gedämpft natürlich, aber mit Nachdruck. „Komm sofort wieder her!“

      Jonas gehorchte seiner großen Schwester jedoch nicht. Im Gegenteil: Sie hörte noch kurz seine sich entfernenden Schritte, dann nichts mehr, nur Stille. Das Haus hatte ihren kleinen Bruder verschluckt.

      Anabel starrte verzweifelt in die Dunkelheit. Das würde ihren Eltern nicht gefallen. Ganz sicher nicht. Was kleine Brüder betraf, verstanden Eltern keinen Spaß. Man durfte ihnen die Haare nicht mit der Gartenschere schneiden, man durfte keine Käfer in ihr Müsli mischen und mit Wasserfarben blau anmalen durfte man sie auch nicht. Obwohl kleine Brüder in Blau einfach viel besser aussahen.

      Anabel hatte es nur ein paar Wochen zuvor selbst ausprobiert und Jonas von oben bis unten blau angepinselt. Der neue Anstrich hatte ganz hervorragend zu ihm gepasst. Das wollten ihre Eltern allerdings nicht gelten lassen.

      Wenn sie also keinen mordsmäßigen Ärger bekommen wollte, musste sie ihren Bruder aus diesem Haus holen. Danach griff sie sich noch den Kater und ihre Mission war erfüllt.

      Also stand sie in dem verwilderten Garten vor dem alten Haus und suchte nach all ihrem Mut. Wie viel sie davon finden würde, konnte sie noch nicht sagen. In ihrem bisherigen Leben war besonderer Mut noch nicht erforderlich gewesen, wenn sie es recht bedachte.

      Es war wohl mutig, mit der Geisterbahn zu fahren, mit all den Hexen, Monstern und Spinnen in ihren durchscheinenden Netzen, die von der Decke hingen. Es war wohl auch mutig, vom Dreimeterbrett zu springen, und bestimmt war es auch mutig, einen Riegel aus Insektenmehl zu verspeisen, auch wenn er weniger nach Speisegrille als vielmehr nach Karamell geschmeckt hatte. Obwohl sie im Grunde gar keine Ahnung hatte, wonach Grille schmeckte, vielleicht ja intensiv nach Karamell.

      All das hatte Anabel schon gemacht. So gesehen war sie wohl ein mutiges Mädchen. Zur Sicherheit holte sie aber ihre Augenklappe heraus und streifte sie über. Nun war sie nicht nur ein mutiges Mädchen, sondern auch noch eine mutige Piratin. Und doppelt hält nun einmal besser.

      Sie stand vor dem Fenster. Die Gerüchte über diesen Pasternak waren ja mit Sicherheit nichts weiter als Gerüchte, redete sie sich ein. Anstatt Vampir- Serienmörder konnte er Astronaut sein. Das wäre genauso gut möglich. Wenn man die meiste Zeit im All herumflog, bekamen einen die Nachbarn auch kaum zu Gesicht.

      Statt Haustieresser konnte er auch einfach Kaninchenzüchter sein. Sein Haus wäre dann voller kleiner, flauschiger Tiere. Das würde das Verschwinden von Frau Schellings Liebling auch erklären. Der hatte womöglich eine neue Familie gefunden und lebte glücklich und zufrieden mit vielen anderen Kaninchen.

      Vielleicht hatte Herr Pasternak sein Haus gar mit Zuckerwatte ausgekleidet, weil Zuckerwatte die großartigste Speise der Welt war. Wenn Anabel jetzt durch dieses Fenster kroch, musste sie sich nur bis zu ihrem kleinen Bruder durchfuttern und alles wäre gut.

      So oder so ähnlich könnte es durchaus sein. Das eine war so wahrscheinlich wie das andere, und weil Jonas nun schon einmal da unten