Annika Holm

Die Drachenkinder von Nicaragua


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zum Teufel treibst du hier? Bist du nicht ganz dicht? Warum bist du nicht in der Schule?“

      David bombardierte seinen Bruder mit Fragen, obwohl er wußte, daß er keine Antwort bekommen würde. Oscar sprach seit drei Jahren nicht mehr. Er verfolgte alles, was um ihn herum geschah, mit den Augen und verstand offensichtlich auch alles, was man ihm sagte, aber man brachte aus ihm kein Wort heraus. Er lachte auch nicht und weinte nie.

      „Nun kommen wir beide zu spät“, schalt David und schleppte den stummen Bruder hinter sich her.

      „Ich hätte dich doch heute Morgen mitnehmen sollen, aber ich war dumm genug zu glauben, daß du selbst in die Schule gehen kannst. Du bist immerhin schon zehn!“

      Erst als er, erschöpft vor Wut und Anstrengung, neben Victor auf seinen Stuhl sank, bemerkte er, daß er vergessen hatte, seine Bücher aus Oscars Rucksack herauszunehmen.

      Das war ja nicht so schlimm, weil Oscars Klassenzimmer gleich nebenan lag. Es ist aber ärgerlich, zu spät zu kommen und obendrein noch die Bücher zu vergessen. Als Lidia außerdem so vorwurfsvoll klang, verlor er die Fassung und stürzte aus dem Zimmer, anstatt langsam zu gehen. Als er zurückkehrte, war er so verlegen, daß er es nicht wagte, Victor und Isabel einen Blick zuzuwerfen.

      So hatte er sich diesen Morgen nicht vorgestellt. Er stürzte sich auf die Mathematikaufgaben, die Lidia an die Tafel schrieb. Das Rechnen hinderte ihn am Nachdenken, und das war gut so. Als dann allerdings die Geschichtsstunde anfing, hatte er keine Zahlen mehr, hinter denen er sich verstecken konnte. Er schloß die Augen und versuchte Lidia zuzuhören, aber es gelang ihm nicht.

      Die Enttäuschung darüber, daß alles schiefgelaufen war, brodelte in seinem Innern; er wollte am liebsten aus dem Klassenzimmer verschwinden und das Heft mit dem neuen Lied zerreißen. Wenn er nun aber nicht davon erzählte, würde er ihre freudigen Gesichter nicht sehen. Er würde ihren mißbilligenden Blicken begegnen müssen, sich erklären, sich entschuldigen, und und und ...

      Er seufzte und öffnete die Augen. Um ihn herum schienen alle Lidias Erzählungen aufmerksam zu folgen. Er verstand plötzlich, daß sie von Monibo sprach: „Der Aufstand war das erste Signal, war beispielhaft für den Rest des Landes. Die Menschen in Monibo taten das, was alle wollten, aber noch nicht wagten, sie zeigten den Nationalgardisten, daß es nun genug sei, jetzt müsse endlich Schluß sein mit der Ungerechtigkeit. Sie griffen zu den Waffen, und durch sie bekamen auch wir Mut und konnten uns von der Diktatur befreien.“

      „Komisch, daß sie es so ausdrückt“, dachte David. Damals hatte er zum ersten Mal begriffen, wie es um dieses Land stand. Sein Gesicht verriet keine Regung, er wirkte vollkommen abwesend. Das war er auch, denn er versetzte sich in Gedanken in die Ereignisse zurück, die vor vier Jahren in Monibo passiert waren. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er seine Tante in die Kirche begleitet hatte. Ein Zeitungsredakteur war erschossen worden, und nun sollte eine Messe für ihn gehalten werden. Es war alles sehr schön und traurig, seine Tante und viele andere weinten.

      Er selbst hatte nicht alles begriffen, er saß nur da und fand es schön kühl in der Kirche.

      Als sie aus der Kühle der Kirche in die Hitze hinaustraten, sahen sie die Nationalgardisten. Der ganze Marktplatz war voll von Soldaten, die Tränengasbomben warfen und um sich schossen. Menschen schrien durcheinander, weinten oder fielen einfach um. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie seine Tante und er davonkamen, aber er wußte noch, wie sie die Straße entlang zu dem Viertel rannten, in dem sie wohnten, und wie sie die ganze Zeit die gleichen Sätze herunterleierte, mit Tränen auf ihrem Gesicht und Wut in der Stimme: „So kann man nicht leben! Wir haben nichts getan, gar nichts!“

      Als sie zu Hause ankamen, hatte man schon begonnen, Barrikaden zu errichten. Alle waren über die Geschehnisse wütend. Die unbeliebten Nationalgardisten hatten zwar schon mehrere Male in Monibo geschossen und getötet, aber was an diesem Tag geschehen war, war zu dreist. Kirchenbesucher zu überfallen – Frauen, Kinder und Jugendliche –, weil sie einer Messe beiwohnten! Das ging zu weit. Von nun an sollten die Nationalgardisten Monibo nicht mehr betreten können. Die Einwohner würden sich zur Wehr setzen. Tag und Nacht wurde an den Barrikaden gebaut und Waffen hergestellt. Tag und Nacht wurde Wache gehalten, um bereit zu sein, wenn die Nationalgardisten auftauchten. Und sie kamen. Mehrmals versuchten sie, die Mauern zu durchbrechen, die Straßen und Wege versperrten. Sie schienen aber unentschlossen, sogar ein wenig eingeschüchtert, als sie die Standhaftigkeit der Barrikaden bemerkten, und so blieben ihre Versuche halbherzig. Schließlich ließen sie von weiteren Angriffen ab.

      Nach einer Woche aber war der Widerstand gebrochen. Die Nationalgarde kehrte mit Panzern und schweren Schußwaffen zurück. Die Barrikaden fielen. Viele Menschen wurden erschossen, viele wurden als Geiseln verschleppt. Davids achtzehn Jahre alter Vetter gehörte zu denjenigen, die für immer verschwanden.

      David half beim Bau der Barrikaden nicht mit. Seine Tante hielt ihn für zu jung, und sie spürte wohl auch die Verantwortung für ihn, der so weit entfernt von seinen Eltern lebte. David begriff allerdings sehr genau, was sich in Monibo abspielte. Er faßte einen Entschluß. Er wollte sich der Befreiungsbewegung anschließen, sobald er wieder zu Hause war. Vielleicht fanden sie ihn noch zu jung, aber er wollte es zumindest versuchen.

      Man fand ihn nicht zu jung. Und er erhielt sofort einen Auftrag. Er sollte Nachrichten an eine Widerstandsgruppe aus der Stadt in einen Vorort schmuggeln. Es war kein ganz ungefährlicher Auftrag, denn in der Stadt wimmelte es zu dieser Zeit von Nationalgardisten, und die Kontrollen waren häufig und brutal. Niemand war auf der Straße sicher, nicht einmal Kinder. Der Diktator Somoza hatte seinen Truppen befohlen, Kindern gegenüber besonders wachsam zu sein. Es war nicht ungewöhnlich, daß Kinder im Gefängnis landeten oder gar hingerichtet wurden, weil sie im Verdacht standen, der Befreiungsbewegung zu helfen.

      Als David an jenem Nachmittag den Geheimbriefbekommen hatte, ging er zuerst nach Hause und überlegte, wie er am geschicktesten aus der Stadt herauskäme. Er saß lange im Hof und prüfte seine Einfälle, bis er plötzlich wußte, wie er es machen würde. Unter dem hervorstehenden Dach über der Küche lag sein Arbeitsmaterial zwischen zwei losen Brettern. Holzstöcke, Plastik in verschiedenen Farben, Papier und Drähte. Er bastelte oft Drachen, verkaufte sie hin und wieder und war schon beinahe berühmt für seine bunten und schönen Segler am Himmel.

      Sein Einfall machte David ganz aufgeregt. Er rannte auf die Straße hinaus und schnappte sich Oscar, der zu der Zeit noch genauso viel redete wie alle anderen, und einige Kinder im Viertel, die ihm für seinen Plan geeignet schienen. Innerhalb einer Stunde traf sich die neu gegründete Gruppe der Drachenkinder zu ihrer ersten heimlichen Versammlung. David erklärte, was er sich ausgedacht hatte. Einige hegten zuerst Zweifel – es sei doch zu gefährlich, sagte einer, und ein anderer meinte, das würde nie klappen. Es dauerte aber nicht lange, bis sie sich alle einig waren, und nun begannen sie, die Drachen zu basteln.

      Bald darauf verteilte sich die Gruppe mit den Drachen in der Stadt, und so fing das Spiel an, das eigentlich keines war, aber wie ein solches aussehen sollte. David hatte die Geheimbotschaft in blaues Papier gewickelt und sie mit vielen anderen bunten Papierstückchen am Schwanz eines Drachens befestigt, der so in allen Farben des Regenbogens im Sonnenlicht strahlte. Mit dem im Wind flatternden Drachen über seinem Kopf lief er die Straße zum Marktplatz hinunter. Oscar stand bereits dort, mit ihm aber auch mehrere Nationalgardisten.

      „Was treibt ihr denn?“ brüllte einer von ihnen, als David neben Oscar anhielt. David legte die Drachenschnur in Oscars Hand und stieß ihn leicht an die rechte Schulter, als er entgegnete: „Wir spielen, das siehst du doch. Wir spielen mit Drachen. Drachenstaffel. Willst du mitmachen?“

      Der Nationalgardist war bei dieser Frage so verdutzt, daß er nach Luft schnappen mußte, und bis er weitere Fragen stellen konnte, war Oscar schon außer Sichtweite.

      „Was für ein Spiel mit Drachen? Wer war der, der da gerade verschwunden ist?“

      David lachte so vergnügt er konnte und erklärte:

      „Ich habe noch mehr Drachen zu Hause. Ich kann sofort einen holen, wenn Sie, Herr Wachtmeister, einen haben möchten. Wünschen sie eine besondere Farbe? Rot, schwarz oder vielleicht blau?“

      Der