Marie-Louise Wallin

Fest im Sattel - Lovisa reitet ins Ziel


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über den Rand des Laufstalls und schaut sie lange an. Madeleine schaut mit ihren großen Augen zurück. Lovisa weiß, dass Madeleine ihre kleine Schwester ist, aber sie weiß auch, dass sie die Kleine nicht liebt. Sie fühlt sich nur leer und gleichgültig, wenn ihre Blicke sich treffen. Madeleine ist wie eine Kopie von Larry mit ihren blassblauen Augen, dem Grübchen am Kinn und dem Schmollmund. Lovisa überlegt, ob Madeleine sie wieder erkennt. Es ist schwer zu sagen, denn das Gesicht des kleinen Mädchens ist ausdruckslos. Lovisa wünschte sich, dass sie ihre kleine Schwester genauso lieben könnte wie sie Linus liebt. Sie sieht in die matten Augen des Kindes und fühlt sich als Schwester unmöglich. Fast schämt sie sich.

      Siv ruft alle zu Tisch. Sie hebt Madeleine hoch und setzt sie in einen Kinderstuhl. Es gibt Spagetti mit Hackfleischsoße, was alle mögen, und eine Weile herrscht Ruhe am Tisch. Madeleine kippt ihr Milchglas um und Siv wischt den Tisch ab.

      Larry sagt, dass Lovisa wie ein Junge aussieht. Das weiß sie ja, das hat er schon öfter gesagt, aber er sagt es immer so, als ob etwas mit ihr nicht stimmte. Lovisa schweigt, aber Siv verteidigt sie etwas erhitzt: Lovisa sei hübsch! Die Frisur stehe ihr. Madeleine müsse froh sein, wenn sie einmal genauso hübsch wie ihre große Schwester werde.

      Siv hat sich Madeleine zugewandt, die sie mit kleinen Spagettistückchen füttert. Deshalb sieht sie nicht den dankbaren Blick, den Lovisa ihr zuwirft.

      „Hör mal, Lovisa!“, sagt Larry plötzlich und schaut sie mit seinen kühlen hellen Augen an. „Du musst lernen den Mund zuzumachen, wenn du isst. Du sperrst ihn so weit auf, dass man sehen kann, was du zum Frühstück gegessen hast!“

      Lovisa spürt, wie ihr das Blut in die Wangen steigt. Wütend macht sie ihren ziemlich großen Mund zu.

      „Du sollst nicht immer an Lovisa herummeckern, sobald sie zu uns kommt“, zischt Siv.

      Larry fängt an zu lachen. „Aber schau sie doch an! Jetzt kneift sie den Mund gleich so fest zu, dass er wie ein Hühnerpo aussieht!“

      Lovisa würde am liebsten aufspringen und rauslaufen. Keine Minute will sie länger hier bleiben. Sie spürt, wie die Tränen unter ihren Lidern brennen. Aber sie darf nicht weinen. Und sie darf nicht wie eine Verliererin vom Tisch rennen. Doch sie isst nichts mehr. Ihr Essen bleibt auf dem Teller liegen. Und von dem Eis, das Siv zum Nachtisch gekauft hat, um Lovisa eine Freude zu machen, will sie auch nichts.

      Da will Linus plötzlich auch nichts mehr essen. Die Augen in seinem schmalen Gesicht sehen Lovisa groß und unglücklich an, während Lennart und Pontus schreien, dass sie sein Eis haben wollen. Da überwindet Lovisa sich und fängt lustlos an zu essen. Das Eis schmeckt nach nichts. Es ist nur kalt und schwer zu schlucken. Aber Linus’ Gesicht hellt sich auf. Er fängt an seine Portion in sich hineinzuschaufeln.

      Nach dem Essen stellen alle ihre Teller in die Spülmaschine. Larry setzt sich mit seinen beiden Jungen vor den Fernseher, um Sport zu sehen. Siv badet Madeleine, die angefangen hat vor Müdigkeit zu quengeln, und bringt sie ins Bett. Linus geht in sein Zimmer und wirft sich mit einem Buch aufs Bett.

      Lovisa bleibt allein im Flur stehen. Sie starrt ein Bild an, das einen rosa Schutzengel darstellt, der hinter zwei kleinen Kindern über einem Abgrund schwebt. Sie kann hier einfach nicht zusammen mit Larry bleiben, es geht nicht. Sie sehnt sich zurück zu Bele. Sie starrt den Engel an. Zu Hause sehnt sie sich nach Siv und Linus. Bei Siv sehnt sie sich nach Bele.

      Die Mutter hat für Lovisa eine Schaumgummimatratze als Bett in Linus’ kleines Zimmer gelegt. Sie füllt fast die ganze Bodenfläche aus, die zwischen den Möbeln übrig ist. Es ist ganz deutlich, dass der Schlafplatz für einen zufälligen Gast eingerichtet ist. Es gibt niemand, der findet, dass sie ein Kind dieses Hauses ist.

      Pontus und Lennart haben ein ziemlich großes Kinderzimmer, voll von Spielzeug. Madeleine schläft nachts im Schlafzimmer bei Siv und Larry. Alle – außer Lovisa – haben hier ihren eigenen Schlafplatz.

      Lovisa geht ins Badezimmer und lässt sich ein heißes Bad ein. Sie bleibt so lange in der Badewanne, dass Siv sich Sorgen macht und an die Tür poltert. Das Badewasser ist kaum mehr lauwarm und Lovisa steigt heraus.

      Auf der schmalen Matratze neben Linus’ Bett zusammengekauert sagt sie laut und bitter: „Larry ist ein großes Arschloch!“

      „Ja, schon, aber nicht immer“, flüstert Linus. „Er hat mir ein Fahrrad mit zwölf Gängen geschenkt und er nimmt mich und die Jungs oft zum Fußball mit. Manchmal kann er ganz okay sein.“

      „Aha. Das sagst du! Aber ich fahre trotzdem morgen nach Hause, weil ich ihn echt nicht leiden kann. Ich kann ihn nicht ausstehen.“

      „Schade. Obwohl, morgen hätten wir sowieso nicht zusammen sein können, weil ich bei Oma eingeladen bin.“

      „Seit wann haben wir eine Omi? Oder bist du im Himmel eingeladen?“

      „Ich meine die Mutter von Larry. Sie und ihr Mann kommen uns drei Jungs abholen und nehmen uns in den Ferien mit nach Sälen zum Skifahren. Sie haben dort eine Hütte.“

      „Ach, so ist das“, sagt Lovisa und dreht Linus den Rücken zu. Sie schnieft unter der dünnen Decke und es dauert lange, bis sie einschlafen kann, eingelullt von Linus’ ruhigen Atemzügen.

      Als Lovisa am nächsten Morgen aufwacht, sind Larrys Eltern schon da gewesen und haben die Jungen abgeholt. Larry hat sich auf den Weg in die Firma gemacht. Lovisa, die wie immer in ihrem Slip geschlafen hat, zieht schnell ihre Jeans und ein T-Shirt über und geht barfuß in die Küche, wo Madeleine auf dem Boden herumkriecht. Siv schaut ihr zu. Sie hat einen Kaffeebecher in der Hand und lächelt Loivsa an.

      „Setz dich“, sagt sie. „Dickmilch und Müsli stehen auf dem Tisch. Denn du hast doch nicht etwa angefangen Kaffee zu mögen?“

      „Nein. Aber Dickmilch ist nicht schlecht.“

      Während Lovisa isst, zündet sich Siv eine Zigarette an, die sie unter der Abzughaube raucht, damit Larry es nicht riechen kann, wenn er zurückkommt. Er hat ihr verboten zu rauchen und sie möchte keinen Krach mit ihm haben. Sie versteckt die Zigarettenschachtel und wirft die Kippe weg, dann beginnt sie sich mit Lovisa zu unterhalten. Es läuft nicht mehr so gut zwischen ihnen. Sie sind nicht mehr unbefangen miteinander, das wollen sie aber nicht und wollen es auch nicht wahrhaben.

      „Schade, dass Linus Ski fahren wollte“, sagt Lovisa nach einer Weile. „Ich wäre gern mit ihm zusammen gewesen.“

      „Ja, aber wir fanden, dass er die Gelegenheit nicht verpassen sollte. Ihr seht euch auch so recht oft.“

      „Tun wir das?“ Lovisas Stimme klingt so erwachsen und spöttisch, dass Siv verstummt. Sie weiß ja auch, dass sich die Geschwister seit einem Monat nicht mehr gesehen haben.

      „Und wie geht es den Pferden?“, fragt Siv dann, um auf ein unverfänglicheres Thema zu kommen. „Ist alles in Ordnung mit ihnen? Wie geht es Rossy inzwischen, schafft sie es noch ein Weilchen? Sie ist doch jetzt sehr alt?“

      Jetzt geht das Gespräch besser. Sie haben immer über Tiere reden können, lange und mit Begeisterung. Sivs Stimme verrät Sehnsucht nach ihnen, was Lovisa versteht. Aber niemals wird sie verstehen können, dass jemand freiwillig den Hof und den Stall, die Wiesen und den Wald gegen vier kleine Zimmer voller hässlicher Möbel tauschen konnte. Sie begreift einfach nicht, wie Siv die Pferde gegen Büroarbeit in Larrys Firma tauschen konnte, und was am unbegreiflichsten von allem ist: dass sie den gut aussehenden, lieben, fröhlichen Bele gegen dieses langweilige kleine Larry-Männchen tauschen konnte.

      Lovisa sagt das aber nicht. Madeleine hat sich aufgestellt, und versucht ihr Gleichgewicht zu finden; sie hält sich an Lovisas Knie fest. Lovisa streichelt sie unbeholfen mit dem Zeigefinger über die runde, verschmierte Backe.

      „Bleibt Linus wirklich die ganze Woche weg?“, fragt sie, als es nichts mehr von den Tieren zu Hause zu erzählen gibt.

      „Ja, natürlich.“ Siv nickt.

      „Und was mache ich dann die ganze Zeit hier?“, fragt Lovisa hilflos.

      „Was weiß ich, du wirst wohl