Lise Gast

Der alte Trostdoktor


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      Lise Gast

      Der alte Trostdoktor

      Eine heiter-ernste Erzählung

      für alt und jung

      Saga

      Der alte Trostdoktor

      German

      © 1964 Lise Gast

      Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

      All rights reserved

      ISBN: 9788711508855

      1. Ebook-Auflage, 2016

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

      Eligentlich hieß er Bruckmann, Dr. Erich Bruckmann, aber in ganz Krummhübel und allen umliegenden Dörfern, die zu seinem Patienten bereich gehörten – und er war ein richtiger Überlanddoktor, ein Landarzt vom alten Schrot und Korn –, überall nannten sie ihn den alten Trostdoktor. Wenn irgendwo ein Kind auf die Welt kommen wollte, und die junge Mutter hatte Grund zu bezweifeln, daß dies glatt und leicht geschehen würde, wen rief man? Den alten Trostdoktor. War ein Bauer verunglückt, eine Urgroßmutter am Sterben, breitete sich in einem der Dörfer Scharlach, Masern oder Keuchhusten aus wie die Heuschreckenplage in Ägypten, wer kam und half? Der Trostdoktor. Man konnte sich das Leben ohne ihn überhaupt nicht vorstellen.

      Er war groß, dick und von einem ungeheuren Charme. Wenn er hereinkam, nahm die Krankheit schon Reißaus, so jedenfalls empfanden es die Patienten. Und wenn er in Fällen, in denen nicht mehr zu helfen war, den Pflegenden die Wahrheit sagte, ruhig, freundlich und voll behutsamer Güte, da konnte niemand verzweifeln, da wußte man: es soll so sein. Und von seiner Herzenskraft floß Kraft über in die armen, betrübten Herzen der anderen.

      Wir haben ihn noch gekannt, den alten Trostdoktor. Mein Vater hatte mit ihm zusammen in Breslau studiert, und später, zwischen den Kriegen, besuchten wir Bruckmanns immer, wenn wir ins Riesengebirge fuhren. Der alte Trostdoktor steckte voll der herrlichsten Geschichten, von denen mindestens die eine Hälfte erlogen war, aber so entzückend erlogen, daß man gar nicht wissen wollte, wie es sich eigentlich zugetragen hatte. Ich besinne mich noch genau auf ihn, auf seine wunderbar warmen, dunklen Augen hinter der Brille und auf seine schönen, großen Hände, die er einem manchmal ums Gesicht legte, wenn er einen eindringlich ansah. Die Geschichte von Jörg aber, von Jörg Hagemann, die ist so geschehen, wie ich sie hier erzählen will, um das Jahr achtundzwanzig oder dreißig herum. Jörg hat sie mir selbst erzählt.

      Das Doktorhaus lag in einem kleinen Garten, und der war umgeben von einem Zaun von so winziger Höhe, daß man im Schlußsprung hinübergekommen wäre – das war Jörgs erster Eindruck, als er ankam. Am Eingang hing das Schild: «Dr. Bruckmann, Sprechstunden von 5 bis 7»

      und darunter ein zweites, darauf stand:

      Jörg verzog ein bißchen das Gesicht. Das Haus war alt und sicher unpraktisch, mit nachgedunkeltem Holz um das obere Geschoß, der Garten ziemlich ungepflegt, die Stufen vor der Haustür ausgetreten. Wilder Wein verdeckte fast den ganzen Giebel. Ein weiß und braun gefleckter Hund kam ihnen entgegengesprungen, kläffte und schnupperte dann an seinem Knie, ehe er sich wild begeistert dem Doktor zuwandte.

      «Ja doch, alter Kerle, natürlich!» sagte der und tätschelte den Hundekopf, «nu laß mich ock rein! Siehste, das ist der Jörg, der gehört ab heute zu uns.»

      «Wie heißt er?» fragte Jörg, mehr höflich als interessiert. Der Doktor lachte.

      «Er hat mindestens ein halbes Dutzend Namen. Herzele und Dummerle und Strickel, so sagt die Mutter – eigentlich heißt er Blitz. Ist ja auch ein komischer Name für eine Hundelerge. – Mutter, wir sind da-ha!» Das letzte Wort sang er in den Flur hinein, und sogleich kam die Antwort im selben Tonfall.

      «Ja-ha!» sang es aus den hinteren Räumen, und dann kam Frau Bruckmann ihnen auch schon entgegen, klein, zierlich, alt – mit einem knittrigen, freundlichen und lieben Gesicht.

      «Na, der Jörg, da ist er also. Gutten Tag, gutten Tag! Nu kommt ock, damit wir Kaffee trinken können!»

      Sie sagte «Kaffee», mit der Betonung auf der ersten Silbe. Überhaupt sprachen beide schlesisch. Jörg hatte das nicht erwartet. Er dachte, überall in Deutschland würde hochdeutsch gesprochen, jedenfalls unter Erwachsenen. Daß es hier «Tierla» hieß statt Tür, sogar geschrieben, wie er gesehen hatte und «komm ock, mein Junge –», das befremdete ihn. Das Zimmer, in das sie jetzt traten, konnte freilich niemanden befremden, das war ihm sofort klar. Es schien ihm das gemütlichste, das er je gesehen hatte.

      «Ich hab’ hier drin gedeckt, ’s is schon ein bissel kühl draußen, glaub’ ich», erklärte Frau Bruckmann und lief geschäftig hin und her. «Freilich, mittagessen tun wir noch immer auf der Veranda, hoffentlich noch lange –», sie deutete nach der Glastür. Jörg sah eine langgestreckte Holzveranda mit dunkler Brüstung, auf der Kästen mit brennroten Pelargonien standen; die Sonne lag nachmittäglich schräg darauf. Hier im Zimmer war der Kaffeetisch gedeckt, weiß mit blauweißen Tassen, in der Mitte stand ein Porzellanteller mit hochgetürmtem Streuselkuchen. Die «Streifei» waren genau geschichtet, acht nebeneinander mit kleinen Lücken dazwischen, acht wieder quer dazu, und das Ganze wiederholte sich, wie Jörg sogleich feststellte, sechsmal. Achtundvierzig Stück also – er lachte. Frau Bruckmann sah ihn wohlgefällig an.

      «Na gell, das gefällt dir, mein Junge. Nu setz dich ock und lang zu – nee, warte, den Kaffee noch. Heidel, nu komm schon!»

      «Ich bin ja hier!» Aus der Tür, die wohl direkt zur Küche führte, kam flink wie eine Bachstelze mit wippendem Schritt ein Mädel, höchstens fünfzehn, wie Jörg schätzte, kariertes Kleid, blaue Leinenschürze.

      «Das ist die Heidel», stellte der Doktor vor, «ein ganz tummes kleines Madel, gell, Heidel? Zu tumm zum Milchholen!»

      «Nu laß schon», mahnte seine Frau, «die Heidel glaubt’s doch nicht mehr, und ’s is auch nicht wahr.

      Und der Jörg soll’s auch nie glauben.»

      Jörg setzte sich, als die andern Platz genommen hatten, Heidel ging um den Tisch und schenkte Kaffee ein, aus einer dickbäuchigen, buntgeblümten Kanne. Als Heidel zu ihm herum kam, sah er sie einen Augenblick lang näher an. Sie hatte eine Stubsnase und das ganze Gesicht voller Sommersprossen, die ihr ausgezeichnet standen – so etwas hatte er noch nie erlebt –, darüber braunrotes Haar und dazu ein Paar Augen, die so lustig guckten, daß man unwillkürlich auch lustig wurde. Freilich, viel von diesen Augen sah man nicht, eigentlich nur zwei vergnügte Spältchen über den prallen, blanken Backen, die vor Gesundheit glänzten. Ein Bauernmädel, geradezu wie aus einem Bilderbuch herausgeschnitten. War sie die Tochter hier?

      «Nein, Junge», lachte der Doktor, nachdem er die erste Tasse in einem Zug getrunken hatte, als habe Jörg wirklich gefragt. «Die Heidel ist nicht unsere. Wir haben auch Töchter, aber die sind schon groß und alle ausgeflogen. Die Jungen auch. Die Heidel ist bei uns, weil es der Mutter sonst ein bissel schwer wird, so unter die Kommoden zu kriechen und den Staub wegzuwedeln, damit er sich endlich wo anders hinsetzt, wo man ihn mehr sieht.»

      Noch während der Vesper schrillte das Telefon, und der Doktor mußte fort.

      «Eßt und trinkt nur weiter, ich gönn’s euch, wenn ich auch selber hungern muß», sagte er im Abgehen. Jörg sah ihm ein wenig betreten nach. Frau Bruckmann und Heidel lachten. «Mach dir nichts draus. Er sieht schon, wo er bleibt!»

      Als sie dann fertig waren und Heidel den Tisch abräumte, trat Jörg auf die Veranda hinaus. Von hier aus sah man den Kamm und die Koppe im späten Nachmittagslicht. Jörg war noch nie in Schlesien gewesen, er kannte Berlin und die Ostsee, den Odenwald und das Zillertal, und ein wenig hochmütig hatte er immer gedacht: Riesengebirge, was das schon ist! Nicht ’mal ein Zweitausender dabei,