Lise Gast

Der alte Trostdoktor


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Nach Holz und Holzrauch, seltsam würzig – Jörg war ein Mensch, der immer und überall schnuppern mußte. Heidel lachte, als sie nach einer Weile angelaufen kam und ihn so stehen sah, mit geschlossenen Augen und etwas zurückgelegtem Kopf witternd.

      «Na, riecht’s gut bei uns?» fragte sie vergnügt.

      «Hm.» Er öffnete die Augen und runzelte ein wenig die Stirn. Auslachen ließ er sich nicht gern, noch dazu von so einer Göre. Heidel lief an ihm vorbei in den Garten, sammelte die herumliegenden Augustäpfel in eine Emailleschüssel und setzte sich dann auf die Verandastufen. Ihre Hände waren geschickt und flink, während sie die Äpfel putzten und schnitten. Es sah sich gut zu.

      «Du brauchst gar nicht so zu gucken, ich tu dir nichts», sagte sie nach einer Weile. Jörg mußte lachen.

      «Denkst du, ich hätte Angst vor dir?»

      «Nimm dich nur in acht!» Sie lachte auch. «Ich hab’ eine Menge Brüder, da lernt man, sich zu wehren.»

      «Wieviele denn?»

      «Vier. Und zwei Schwestern. – Und du?»

      «Ich hab’ keine Geschwister», sagte Jörg. «Meine Mutter ist Schauspielerin. Jetzt grade gastiert sie in der Schweiz.»

      «Ach, so weit weg! Und wo seid ihr zu Hause? In Berlin?»

      «Ja, eigentlich. Aber ich bin – ich war in verschiedenen Schulen, weißt du. Zuletzt in einer im Odenwald, ehe ich nach Berlin kam.»

      Heidel schüttelte den Kopf. «In verschiedenen Schulen. Ich war nur in einer. In unserer. Bis Ostern vorm Jahr.» Sie beugte sich über ihre Schüssel und suchte unter den Äpfeln einen heraus, der recht appetitlich aussah, schnitt Blüte und Wurmstelle heraus – wurmig waren sie alle –, und warf ihn Jörg zu. «Da, sie schmecken wunderbar. Und wie war es in der Schule?» Jörg biß in den Apfel. Schaumig süß schmeckte das Fruchtfleisch, sonnengewärmt und trotzdem frisch. Er setzte sich neben Heidel auf die oberste Stufe. «Wie es in der Schule war? Da fragst du? Wer geht schon gern in die Schule!» Er langte nach einem zweiten Apfel.

      «Nein, den nimm nicht, der ist innen schwarz. Hier, nimm den! Und hol’ mir noch welche, drüben liegen bestimmt noch viele.» Sie deutete in die Gartenecke, wo dichtes Himbeergesträuch wucherte. «Du mußt halt bissel wühlen. Ich brauch’ noch mehr, wenn ich Apfelmus koch’, muß es sich lohnen. Du magst doch welches?»

      «Klar.» Aber Jörg blieb sitzen. Er hatte keine Lust, den Handlanger zu spielen. Wie kam sie dazu, ihn zu schicken? Das sollte mal von vornherein feststehen: Anstellen ließ er sich nicht, dazu noch von einem Mädel, das ein Jahr jünger war als er.

      «Gern in die Schule?» nahm Heidel das Gespräch wieder auf, «ich zum Beispiel. Wir sind alle gern reingegangen. Unser Lehrer ist so lustig.»

      «Das war wohl eine Volksschule?»

      «Natürlich. Und seit ich raus bin, bin ich in Stellung.» Sie lachte und sprang auf. «Jetzt hol’ ich mir die Äpfel selber, wenn du das nicht kannst.»

      Jörg sah ihr ein wenig unsicher entgegen, als sie wiederkam, die Schürze prall voller Fallobst. Nein, beleidigt schien sie nicht zu sein, sondern unbefangen vergnügt. Mit der kommt man aus, dachte er befriedigt, die zieht kein Gesicht. Ist nur gut, wenn sie gleich kapiert: Ich bin hier nicht in Stellung.

      «So sehr schön denke ich mir das eigentlich nicht, wenn man viele Geschwister hat», sagte er und biß in den nächsten Apfel, daß der Saft spritzte. «Immerzu Krach und Durcheinander und Abgeben und Teilen. Ist das nicht so? Ich weiß es von welchen aus meiner Klasse. Die waren froh, wenn sie wegdurften von zu Hause. Du wohl auch?»

      «Ach, gar nicht. Freilich, hier hab’ ich eine Stube für mich allein, das ist schon hübsch. Zu Hause schlief ich mit den Kleinen zusammen – aber was denkst du, wie niedlich die sind! Und wenn ich mal auf Besuch komm’, da freuen sie sich! Der Jüngste, das Martindel, ist eigentlich meiner, denn ich hab’ ihn großgezogen, weißt du. Meine Mutter hat so viel zu tun, da war sie froh, wenn ich ihn ihr abnahm.»

      «Und wie alt ist er jetzt?»

      «Vier. Aber mein ältester Bruder ist schon achtzehn, der wird Ingenieur. Und unsere zweite lernt im Krankenhaus, die will Schwester werden.»

      «Und du? Was hast du für Pläne?» fragte Jörg und sah sie von der Seite an. «Auch Schwester?» Es klang ein wenig herablassend, wie er das sagte. Heidel schüttelte den Kopf, daß es aussah, als ob die Sommersprossen tanzten.

      «I wo, Schwester nicht. Mutter! Ich will heiraten und viele Kinder haben, noch mehr als wir zu Hause sind.» Sie sprang auf, nahm ihre Schüssel und lief davon. Jörg sah ihr nach.

      Ganz so einfach, wie er vorhin gedacht hatte, schien es doch nicht mit ihr zu sein. Na, kleine Mädel, was verstehen die vom Leben! Er reckte sich, stand auch auf und schlenderte durch den Garten. Zum Abendbrot würde man ihn wohl rufen, nahm er an ...

      Manches war merkwürdig hier im Haus des alten Trostdoktors. Jörg, der zu wissen glaubte, warum er hier war – nicht wegen der Rippenfellentzündung; die war nur der äußere Anlaß gewesen – fing schon nach zwei, drei Tagen an, sein anfängliches Urteil zu revidieren. Freilich, nur lustig kann es nirgends sein, auch hier nicht, aber es war so – so –

      Der Doktor war freundlich und eigentlich immer zu Neckereien und Schabernack aufgelegt. Er erzählte aus der Praxis lauter drollige Dinge.

      Und Frau Bruckmann war stets gleichbleibend sanft und freundlich, nur lag etwas über ihr, was Jörg nicht recht bei Namen nennen konnte. Wie ein Schleier, hauchdünn, dennoch unzerreißbar; man kam nie ganz an sie heran. Jörg betrachtete manchmal insgeheim ihr Gesicht.

      Es war zart und mochte früher einmal sehr lieblich gewesen sein. Das merkte man jetzt noch trotz Alter und Falten um Augen und Mundwinkel. Merkwürdig, noch nie hatte er etwas Ähnliches bei einem Menschen beobachtet. Ihre Stirn war noch glatt, sie hatte etwas Leuchtendes. Freilich leuchtete sie nicht glücklich, eher – nein, traurig auch nicht. Es gibt kein Wort, das richtig auszudrücken, dachte Jörg und ärgerte sich über sein Unvermögen.

      «Ist eigentlich mit Frau Bruckmann irgend etwas nicht in Ordnung?» fragte er schließlich eines Tages Heidel, als sie miteinander die steile Straße zur Apotheke hinaufwanderten. Hier lag die Apotheke seltsamerweise ganz einsam zwischen zwei Ortschaften, sie gehörte wohl zu beiden. Wundervoll war diese Lage, eigentlich die einer Fremdenpension.

      «Frau Bruckmann? Sie ist herzkrank», sagte Heidel ruhig. «Sie darf sich nicht aufregen – merkst du das nicht? Wenn sie diesen Mann nicht hätte, der sich ganz genau auf sie versteht, lebte sie sicher nicht mehr. Aber sie will doch noch –» Heidel brach ab. Jörg sah zu ihr hinüber.

      «Was will sie noch?» fragte er halblaut, dringlich.

      «Na, leben. Weiterleben. Das will doch jeder», sagte Heidel rasch. Es klang ärgerlich. Jörg merkte genau, daß sie im Grunde etwas anderes meinte. Aber er merkte auch, daß Heidel nicht weitersprechen wollte, ja, daß sie bereute, soviel gesagt zu haben. Wortlos gingen sie bergauf.

      Manchmal forderte der Doktor Jörg auf, mit ihm auf Patientenbesuch zu fahren. Nicht oft. Jörg kam nicht dahinter, woran es lag, ob er mitsollte oder nicht. Blitz durfte immer mit. Sobald der Doktor sich rüstete, loszufahren, überkugelte sich der kleine Hund vor Begeisterung und sauste wirklich wie ein Blitz in den Wagen hinein, wenn man die Tür öffnete.

      Der Doktor besaß einen auch für die damalige Zeit ziemlich schäbigen Viersitzer, den eraber sehr liebte, mit «Sie» ansprach und «Graf» titulierte. Jörg fand, daß dies Sparsamkeit am falschen Platze sei, sagte freilich nichts. Aber allein der Anblick, wie sich der dicke und große alte Herr mit seinem halbsteifen Bein ächzend hinter das Steuer des kleinen Wagens schob, war für Jörg ein Greuel.

      «Warum kaufen Sie sich denn keinen bequemeren?» entfuhr es ihm einmal, eigentlich gegen seinen Willen. Der Doktor war eben auf dem Fahrsitz gelandet, nahm die Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf.

      «Nu ja, Junge, du hast schon recht», brummte