Alexander Lombardi

Der silberne Schlüssel und das Geheimnis der Wahrheit


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diesem Moment brüllte einer von Gustavs Freunden: »Der schießt doch nie, lasst mich das machen!«

      Ferdinand zuckte zusammen, der Abzug löste aus und das Geschoss schwirrte davon. Der Bolzen flog nur wenige Zentimeter am Kopf des Tieres vorbei, zwischen zwei Männern hindurch und bohrte sich dann in die Rinde eines dahinterstehenden Baumes.

      Ein Aufschrei ging durch die Gruppe. Die beiden Männer, die ganz dicht an der Schusslinie gestanden hatten, brüllten vor Empörung und wollten sich auf Ferdinand stürzen. Andere hielten sie johlend davon ab.

      Gustav riss seinem Bruder die Armbrust aus der Hand. Sein Kopf war hochrot angelaufen, er schnaubte vor Wut. »Unfähig bist du! Blind, wie Vater! Gib schon her, alles muss man selber machen.«

      Mit einer raschen Bewegung positionierte er einen neuen Bolzen auf der Waffe, legte an und tötete den Hirsch mit einem zielgenauen Schuss.

      Der Mann, der Ferdinand gerade so erschreckt hatte, rief provozierend: »War doch klar, dass er das nicht hinkriegt. Ein Feigling ist er, wie sein Vater. Diese Lutheraner sind doch alles Weicheier! Keine echten Männer, null Mumm in den Knochen!«

      Beifällige Kommentare wurden laut.

      Gustav ließ die Waffe sinken und starrte seinen Bruder an, zitternd vor Zorn.

      Währenddessen stand Ferdinand nur da. Er hatte den Kopf gesenkt und hoffte, dass diese Szene bald vorbei sein würde.

      »Ich kann nicht begreifen, wie so etwas Unfähiges mein Bruder sein kann!«, brüllte Gustav.

      Dass seine Freunde laut auflachten, schien ihn nur noch wütender zu machen.

      »Hol wenigstens den Bolzen, den du verschossen hast!« Er gab dem Jüngeren einen Stoß.

      Ferdinand blinzelte in die Richtung, in die der Schuss gegangen war. Aus dieser Entfernung konnte er den Bolzen nicht genau erkennen, aber er setzte sich gehorsam in Bewegung und stolperte auf den Baum zu. Dort angekommen, begann er, den Bolzen aus der Rinde zu pulen. Das Geschoss hatte etwa in Kopfhöhe eingeschlagen und saß ziemlich fest.

      In diesem Moment hörte er, wie hinter ihm wieder eine Armbrust gespannt wurde. Gleich darauf ertönte das Klicken der Sicherung. Erstaunt drehte er sich um. Hatten die Jäger noch ein weiteres Tier entdeckt?

      Doch als er zu der Gruppe hinschaute, sah er, dass alle Gesichter ihm zugewandt waren. Dann schnarrte eine Sehne. Und im selben Augenblick schoss ein glühend heißer Schmerz durch seine rechte Hand.

      1 So hieß der Starnberger See bis 1962.

       [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

      Kapitel 1:

      Franky

      Am Starnberger See, Januar 2019

      Als er aufwacht, tasten seine Hände über Ziegelsteine. Die weiche Decke seines Krankenhausbettes ist verschwunden. Es riecht irgendwie modrig. Nach uraltem Stein und Erde.

      Und wo ist das Fenster? Das hier ist definitiv nicht das Krankenhaus.

      Es gelingt ihm irgendwie, sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen und die Taschenlampenfunktion einzuschalten. Dann kneift er die Augen zusammen und versucht, sich zu konzentrieren. Aber er kann kaum etwas erkennen; es fühlt sich so an, als sei sein Kopf voller Watte.

      Anscheinend liegt er auf dem Steinboden eines Kellerraums. Da vorne ist eine Tür.

      Er nimmt alle Kraft zusammen und robbt darauf zu. Kiesel bohren sich in seine Handflächen, sein Arm tut weh, als er ihn zur Klinke hochstrecken will. Er versucht, sich auf den Ellenbogen aufzustützen, um sich aufzurichten, aber die Schmerzen sind zu schlimm.

      Erschöpft schließt er die Augen wieder und lässt sich fallen. Dabei landet seine Hand auf etwas Weichem. Als er es zu sich zieht, entfaltet sich eine Decke, die nach Schimmel riecht und offenbar ganz steif ist vor lauter Schmutz.

      Aber das ist ihm in diesem Moment völlig gleichgültig.

      Franky zieht die Decke über sich und rollt sich zusammen. In seinem Kopf wird es dunkel.

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      Drei Tage vorher

      »Du wirst es nicht glauben, Franco mio!«

      Stirnrunzelnd blickte Franky von seinem Tablet auf und sah seinen Vater im Türrahmen stehen. Germano Giuliani wedelte mit seinem Handy und strahlte übers ganze Gesicht.

      »Mann, Papa, klopf doch an! Ich marschier doch auch nicht einfach in dein Zimmer rein!«, murrte der Zwölfjährige.

      Aber sein Vater ließ sich nicht beirren, sondern redete einfach weiter. »Michele Pfeiffer kommte zum Training heute!«, rief er, während er ihm das Handy unter die Nase hielt.

      Franky warf irritiert einen Blick darauf und sah dann wieder seinen Vater an. »Ja, und, wer soll das sein?«, fragte er.

      »Verstehst du nicht? Du kennste ihn doch«

      »Nein.«

      »Er iste Scout beim FC Bayern! Er wohnt hier am See und liebt Pizza. Iste schon oft Gast in unsere Restaurant gewesen, und da habe ich ihn gefragt, ob er nicht mal kommen will zu eine Spiel. Habe ihm erzählt, wie gut du biste.«

      »Ja, und?«

      »Oh, figlio mio, das iste deine Chance!«

      »Ach, Papa …« Franky schaute wieder auf sein Tablet. Wenn sein Vater ihn nur in Ruhe lassen würde!

      »Du weißte, was das heißte!« Germano positionierte sich direkt vor Franky, der auf dem Bett saß, und stemmte die Arme in die Seiten.

      Franky sah seufzend auf. Sein Vater würde ja doch nicht aufgeben. »Nein, das weiß ich nicht«, murmelte er, obwohl er es schon ahnte.

      »Franco! Das kann endlich sein deine Durchbruch! Du haste das Talente. Ich sehe das. Du haste das Zeug zu werden Profi! Du weißte, dass ich kann das beurteilen. Damals, ich habe gespielt beim FC Parma und wir …«

      »… sind 1986 in die zweite Liga aufgestiegen«, vollendete Franky den Satz, den er schon so oft gehört hatte.

      Frankys Eltern Germano und Elvira waren als junge Erwachsene von Italien nach Deutschland gekommen. Heute trainierte Germano die Jugend des TV Allmannshausen, also auch die Mannschaft, in der sein Sohn Franky spielte.

      »Sì, genau!«, bestätigte Germano. »Du haste Fantasie beim Spiel, du haste Geschick mit dem Ball, du biste beste Spielführer, den ich gesehen habe je.«

      »Ja, kann schon sein.«

      »Nein, nix ›kann sein‹ – du haste das Talente. Glaub mir!«

      Statt einer Antwort zuckte Franky nur mit den Achseln

      »Du musse nur ein paar Kilo abnehmen!«

      »Mann, Papa!« Franky hasste es, wenn sein Vater ihn so bedrängte und dann auch noch auf sein Gewicht anspielte. Warum meint er nur, dass ich unbedingt Fußballprofi werden muss? Fußball ist ja okay, aber nicht die ganze Zeit, dachte Franky. Er war lieber mit seinen Freunden Jaron, Antonia und Emma unterwegs, um sich mit ungelösten Rätseln rund um den Starnberger See zu beschäftigen. Oder er setzte sich eine Weile an den Computer und verfeinerte seine Hackerkünste.

      Warum sah sein Vater nicht, dass auch noch andere Dinge wichtig waren? Warum bestand er darauf, dass Franky Fußball als Leistungssport betrieb?

      Vielleicht liegt es daran, dass er selbst nicht die Möglichkeit hatte, in die erste Liga aufzusteigen, nachdem er sich das Sprunggelenk verletzt hatte, überlegte der Zwölfjährige.

      Franky hatte keine Lust auf das Spiel