Teri Terry

EXIT NOW!


Скачать книгу

nicht von der Presse. Habe ich nicht das Recht zu erfahren, ob sie uns gezielt angegriffen haben?« Vor dieser Frage habe ich am meisten Angst.

      Gleich schaut mein Vater versöhnlicher. »Glaube ich nicht. Die haben bloß einen Regierungswagen gesehen, mehr nicht. Wahrscheinlich waren wir nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Nun ist es aber Zeit, dass du das Licht ausmachst und schläfst. Ich muss wieder an die Arbeit.«

      »Solltest du nicht auch lieber schlafen?«

      Er grinst. »Bald. Vorher muss ich noch ein paar langweilige Sachen erledigen. Und sei unbesorgt. Die Straßen werden jetzt besser überwacht. Der Vorfall von heute kann sich nicht wiederholen.«

      Jedes Mal, wenn was passiert ist, werden Maßnahmen ergriffen – hier was erhöht, da was verstärkt. Aber was ist mit den Dingen, die noch gar nicht geschehen sind, an die noch keiner gedacht hat?

      Es gab eine Zeit, da konnte mein Vater zu mir sagen, dass ich mir keine Sorgen machen soll, und ich habe mir auch keine gemacht. Für mich war Dad immer der Größte, der alles konnte. Es ist komisch, aber das stimmt so nicht mehr. Und das ist nicht bloß ein Gefühl, ich weiß es einfach. Die Welt verändert sich ständig, nichts ist mehr vollkommen sicher. London ist Treibsand.

      »Wo ist Mum?«

      »Sie ist bei ihrer Schwester geblieben. Das ist ja auch vernünftiger, als spätabends noch quer durch die Stadt zu fahren. So. Was machst du, wenn ich die Tür schließe?«

      »Schlafen.«

      »So ist es brav.« Er sammelt die Zeichnungen ein und legt sie auf den Schreibtisch, bevor er zur Tür geht. »Irgendwas war doch da noch …« Nachdenklich lässt er den Blick in die Ferne schweifen. »Ach ja. Eigentlich wollte ich es dir schon heute Morgen im Auto sagen, aber da haben sich die Ereignisse dann ja überschlagen. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um deine Noten, weil du so viel gefehlt hast.«

      Ich verdrehe die Augen. Echt jetzt? Nach allem, was heute passiert ist, fängt er davon an?

      »Sieh mich nicht so an. Du weißt, wie wichtig die Zwischenprüfungen sind. Ich habe bei deiner Rektorin nachfragen lassen, wer für Nachhilfe infrage käme. Ein Mädchen aus der Oberstufe bietet sich da an. Eigentlich hättest du dich schon heute mit ihr nach Schulschluss treffen sollen. Nun müsst ihr euch eben morgen treffen.«

      »Was? Morgen? Aber ich habe schon was vor. Wer ist es denn?«

      Er zuckt die Achseln. Falls er ihren Namen mal wusste, hat er ihn nicht mehr parat. Er schaltet die Nachttischlampe ein, bevor er das Deckenlicht löscht, dann schließt er die Tür.

      Wenigstens kann ich jetzt über was anderes nachdenken. Unfassbar, dass er nicht wenigstens vorher mit mir darüber gesprochen hat.

      Wer es wohl ist?

       AVA

      Sie singt leise.

      Sov, du lilla videung,

      än så är det vinter …

      Die Melodie ist wohlig vertraut, legt sich schützend um mich. Ich kuschle mich in Mums Arme, in das Nest aus Wolle und ihrem Geruch – Blumenduft und Küchengewürze. Ihr langes Haar berührt mich sanft an der Wange.

      … sov, du lilla vide,

      än så är det vinter …

      Den ganzen Text kenne ich nicht. Ich darf ihn auch nicht lernen, aber an den Teil mit der Weide kann ich mich trotzdem erinnern. Und mir ist klar, dass es Dad nicht gefallen würde. Wenn er Mum jetzt hören könnte, würde er ihr sagen, sie solle aufhören zu singen. Mum sieht ein, dass es besser ist, schließlich dürfen wir offiziell nur noch Englisch reden, aber wenn Dad nicht da ist, gleitet sie manchmal dennoch ins Schwedische ab.

      … Solskensöga ser dig,

      solskensfamn dig vaggar

      Dann endet das Lied und neue Töne werden angeschlagen.

      Harsche, schroffe Töne. Erst überfällt mich Angst und dann Traurigkeit. Diesen Text kenne ich, aber ich will ihn nicht hören.

      Egal, wie fest ich mir die Ohren zuhalte, es nützt nichts.

      Mum ist fort, und ich schreie, damit es aufhört.

      Ich reiße die Augen auf. Mein Herz rast, und ich greife im Dunkeln nach der Nachttischlampe, bis mir einfällt, dass keine Birne mehr drin ist, auch die sind jetzt knapp. In der Ferne klingen Sirenen, werden lauter. Vielleicht haben sie sich in meinen Traum geschlichen und ihn verändert. Doch ich möchte wieder zurück zum Anfang, in die Arme meiner Mutter.

      Dann ärgere ich mich über mich selbst.

      Sie hat uns verlassen. Wie lange ist das jetzt her? Sechs Jahre?

      Finde dich damit ab.

      Unter die Sirenen mischt sich ein weiteres Geräusch: mein Wecker. Ich muss zur Schule.

      Auf dem Weg nach draußen komme ich an dem Tisch mit dem Schachspiel vorbei. Dad hat den nächsten Zug gemacht, und abgesehen davon, dass es mir Spaß bringt zu kontern, ist es auch der einzige Hinweis, dass Dad zu Hause war, während ich geschlafen habe.

      Im Grunde liegt die Lösung auf der Hand: Ein Läufer rückt zwei Felder vor, um den Angriff abzuwehren und gleichzeitig selbst anzugreifen. Ein Zeichen, dass Dad müde war. Ich setze den Läufer und stecke das kleine Fähnchen auf seine Seite, damit er weiß, dass er wieder dran ist.

      Mein Telefon brummt. Dad schreibt. Bist du schon aus der Tür? *strenges Gesicht*

      Den Arm voller Bücher trete ich lächelnd nach draußen, bevor ich antworte. Ja, klar.

      Sei vorsichtig. Geh den Umweg.

      Ich lasse das Handy in der Tasche verschwinden. Natürlich könnte ich so tun, als hätte ich es nicht gelesen oder als wäre ich schon auf dem Weg. Doch dann vibriert es wieder und ich kann nicht widerstehen und schaue nach.

       Ich weiß, dass du meine Nachricht bekommen hast. Vergiss nicht, dass ich über väterliche Superkräfte verfüge!

      Ich seufze. Ja! Ok, mache ich.

      Bald schon bin ich nicht mehr davon überzeugt, dass der lange Weg besser ist als der kurze. Ich lege einen Zahn zu, denn ich will nicht zu spät kommen und auch die Gegend so schnell wie möglich hinter mir lassen.

      Die Obdachlosen haben eine weitere Straße in Beschlag genommen; und es sind nicht nur ein paar einzelne, die unter die Räder gekommen sind, sondern ganze Familien. Sieh nicht hin, würde Dad sagen, riskiere keinen Blickkontakt. Aber wie soll ich wegschauen, wenn Kinder zusammengedrängt in Pappkartons schlafen?

      Die Sonne von gestern hat sich verzogen, heute ist es kalt und feucht. Schon bald wird der Winter seine eisigen Finger ausstrecken, und wir Fußgänger gehen alle rasch vorbei, die meisten wenden den Blick ab, wie Dad es mir geraten hat.

      Aber es ist nicht mehr wie früher. Die hier auf dem Weg zur Arbeit oder Schule blind vorbeihasten, tun es nicht aus schlechtem Gewissen, weil sie mehr haben oder weil sie nicht helfen. Vielmehr geht die Angst um: Das könnte ich sein. Eines Tages trifft es vielleicht mich.

      Wenn sie diese Leute als Menschen betrachten würden, müssten sie sich ihrer Angst ja stellen.

       SAM

      Am nächsten Tag fällt der Unterricht nicht aus. Ich wünschte, es wäre so und nicht nur, weil ich keinen Bock habe.

      Auf der Fahrt zur Schule habe ich ein beklommenes Gefühl, ob ich will oder nicht. Dass Dad schon früher los ist und ich allein im Wagen sitze, macht es nicht besser. Wenn man es gestern nicht auf uns abgesehen hatte, warum fahren wir dann heute eine andere Strecke? Wäre Dad hier, könnte ich ihn zumindest fragen.

      Aber es geschieht nichts, und als sich das Schultor für