Georges Simenon

Maigret lässt sich Zeit


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hatte. Es lag fast eine Ironie darin.

      »Entschuldigen Sie, meine Herren.«

      Ein großer junger Mann mit einem Pferdegesicht kam hereingestürmt und gab einem nach dem anderen die Hand.

      »Wo ist die Leiche?«, fragte er.

      »Im Zimmer nebenan.«

      »Gibt es schon eine Spur?«

      »Ich war gerade dabei, Kommissar Maigret zu berichten, was ich weiß. Aline, die junge Frau, die mit Palmari zusammengelebt hat, behauptet, das Haus gegen neun Uhr ohne Hut mit einem Einkaufsnetz in der Hand verlassen zu haben.«

      Einer der Wache stehenden Beamten war ihr sicherlich gefolgt.

      »Sie hat in verschiedenen Läden hier im Viertel eingekauft. Ich habe ihre Aussage noch nicht zu Protokoll genommen, denn sie hat nur in abgehackten Sätzen gesprochen.«

      »Und während ihrer Abwesenheit ist …«

      »Sie behauptet es natürlich. Sie will um fünf vor zehn zurückgekommen sein.«

      Maigret sah auf die Uhr. Es war zehn nach elf.

      »Sie hat im Zimmer nebenan Palmari gefunden, der von seinem Rollstuhl auf den Teppich gerutscht war. Er war tot und hat, wie Sie sich vorstellen können, sehr viel Blut verloren.«

      »Wann hat sie Sie angerufen? Man hat mir gesagt, dass sie es war, die im Kommissariat angerufen hat.«

      »Ja. Um Viertel nach zehn.«

      Alain Druet, der Vertreter des Staatsanwalts, stellte die Fragen, während sich der dicke Richter damit zufriedengab, vage lächelnd zuzuhören. Auch er schien sich, trotz der Schwierigkeiten, seine Kinderschar zu ernähren, seines Lebens zu freuen. Von Zeit zu Zeit warf er Maigret einen verstohlenen Blick zu, als wollte er eine Art Einverständnis zwischen ihnen herstellen.

      Die beiden anderen, der Staatsanwalt und der Polizeikommissar, sprachen und benahmen sich wie gewissenhafte Beamte.

      »Hat der Arzt die Leiche untersucht?«

      »Er war nur ganz kurz hier. Vor der Autopsie, sagt er, kann man unmöglich feststellen, von wie vielen Kugeln Palmari getroffen wurde, und man muss die Leiche ausziehen, um zu sehen, wo sie in den Körper eingedrungen und wo wieder ausgetreten sind. Aber es scheint, als ob die Kugel, die ihn im Nacken getroffen hat, von hinten auf ihn abgefeuert wurde.«

      Also, dachte Maigret, hatte Palmari keinen Verdacht geschöpft.

      »Wie wäre es, meine Herren, wenn wir uns die Leiche einmal ansehen, bevor die Leute vom Erkennungsdienst eintreffen?«

      Manuels kleines Zimmer war von Sonnenlicht durchflutet und hatte sich kaum verändert. Die seltsam verrenkte und fast lächerlich wirkende Leiche lag auf dem Boden, und das schöne weiße Haar war im Nacken mit Blut beschmiert.

      Maigret war überrascht, Aline Bauche vor einem der Fenster stehen zu sehen. Sie trug ein hellblaues Kleid, das er schon kannte, ihr schwarzes Haar umrahmte ein bleiches Gesicht voller roter Flecke. Es sah aus, als hätte man sie geschlagen.

      Sie sah die drei Männer so gehässig oder herausfordernd an, dass es Maigret nicht gewundert hätte, wenn sie mit ausgefahrenen Krallen auf sie losgegangen wäre.

      »Sind Sie jetzt zufrieden, Monsieur Maigret?«

      Dann sagte sie, an alle gewandt:

      »Es ist also nicht möglich, mich mit ihm allein zu lassen wie jede andere Frau, die gerade den Mann ihres Lebens verloren hat! Sie werden mich sicher auch noch verhaften, was?«

      »Kennen Sie sie?«, fragte der Untersuchungsrichter Maigret mit leiser Stimme.

      »Recht gut.«

      »Glauben Sie, sie hat es getan?«

      »Hat man Ihnen nicht gesagt, dass ich nie etwas glaube, Herr Richter? Da kommen die Männer vom Erkennungsdienst mit ihren Apparaten. Erlauben Sie, dass ich Aline unter vier Augen verhöre?«

      »Nehmen Sie sie mit?«

      »Ich befrage sie lieber hier. Ich berichte Ihnen später, was ich herausgefunden habe.«

      »Wenn die Leiche abgeholt wurde, sollte man dieses Zimmer besser versiegeln.«

      »Wenn es Ihnen recht ist, wird sich der Polizeikommissar darum kümmern.«

      Der Untersuchungsrichter beobachtete Maigret die ganze Zeit mit einem listigen Blick. Hatte er sich den berühmten Kommissar so vorgestellt? Oder war er enttäuscht?

      »Ich lasse Ihnen freie Hand, aber halten Sie mich auf dem Laufenden.«

      »Kommen Sie, Aline.«

      »Wohin bringen Sie mich? Zum Quai des Orfèvres?«

      »Nicht ganz so weit. Nur in Ihr Schlafzimmer. Janvier, hol du die Kollegen, die draußen Wache stehen, und wartet dann im Wohnzimmer auf mich.«

      Mit hartem Blick musterte Aline die Männer vom Erkennungsdienst, die mit ihren Geräten in das kleine Zimmer kamen.

      »Was wollen die?«

      »Es ist die übliche Routine. Sie machen Fotos, nehmen Fingerabdrücke und so weiter. Ist eigentlich die Waffe gefunden worden?«

      Sie deutete auf einen kleinen Tisch neben dem Sofa, auf dem sie lag, wenn sie ihrem Geliebten Gesellschaft leistete.

      »Haben Sie sie aufgehoben?«

      »Ich habe sie nicht angerührt.«

      »Kennen Sie die Pistole?«

      »Soviel ich weiß, gehörte sie Manuel.«

      »Wo hat er sie aufbewahrt?«

      »Tagsüber hat er sie hinter dem Radio versteckt, aber so, dass er jederzeit danach greifen konnte. Nachts lag sie auf seinem Nachttisch.«

      Eine .38er Smith & Wesson. Die Waffe der Profis, die kein Erbarmen kennen.

      »Kommen Sie, Aline.«

      »Wozu? Ich weiß nichts.«

      Widerwillig folgte sie ihm ins Wohnzimmer und öffnete die Tür zu einem sehr feminin eingerichteten Schlafzimmer mit einem breiten, niedrigen Bett, wie man es eher in Filmen als in einer Pariser Wohnung vermuten würde.

      Die Vorhänge und die Tapete waren aus gelber Seide, ein riesiger weißer Ziegenfellteppich bedeckte fast den ganzen Boden, und die Gardinen ließen den Staub im Sonnenlicht golden schimmern.

      »Ich höre«, sagte sie gehässig.

      »Ich auch.«

      »Dann kann es lange dauern.«

      Sie ließ sich in einen mit elfenbeinfarbener Seide bezogenen Sessel fallen. Maigret wagte nicht, sich auf einen der zierlichen Stühle zu setzen, und zögerte, sich eine Pfeife anzuzünden.

      »Ich bin überzeugt, Aline, dass Sie ihn nicht erschossen haben.«

      »Ach wirklich?«

      »Seien Sie nicht so spöttisch. Letzte Woche haben Sie mir doch noch geholfen.«

      »Das war wahrscheinlich sehr dumm von mir. Der Beweis dafür ist, dass Ihre beiden Männer immer noch vor dem Haus gegenüber Wache stehen und der große mir heute früh wieder nachgegangen ist.«

      »Ich mache nur meine Arbeit.«

      »Ekelt sie Sie nicht manchmal an?«

      »Wie wäre es, wenn wir mit diesem Kleinkrieg aufhören? Sagen wir, ich tue meine Arbeit, wie Sie die Ihre tun, und es spielt dabei kaum eine Rolle, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen.«

      »Ich habe in meinem ganzen Leben nie jemandem Leid angetan.«

      »Schon möglich. Dagegen ist Manuel soeben ein nicht wiedergutzumachendes Leid zugefügt worden.«

      Er sah, wie Aline Tränen in die Augen stiegen, und sie schienen echt zu sein.