Georges Simenon

Aus den Akten der Agence O


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Erhängter. Nicht einmal der Schatten eines Erhängten. Keine Spur eines Stricks zum Aufhängen.

      »Wenn ich wüsste, wer zum Teufel für diesen Anruf verantwortlich ist …«

      Torrence kann sich nicht beruhigen. Émile hingegen untersucht den Ort mit Engelsgeduld.

      »Können Sie mich mal auf Ihre Schultern heben, Chef?«

      So erreicht er den Deckenbalken, an dem ein dicker Haken aus Eisen befestigt ist. »Haben Sie den Gehängten gefunden?«, fragt Torrence feixend?

      »Noch nicht. Aber dieser Haken sollte verrostet sein und ist es nicht, jedenfalls nicht an der Stelle, wo der Strick ihn blank gerieben hat.«

      »Welcher Strick?«

      »Der Strick, den jemand weggenommen hat … Sie können mich wieder herunterlassen. Das ist nicht überwältigend, aber es ist besser als nichts. Wenn dieser Eisenhaken nicht vor Kurzem benutzt worden wäre, wäre er völlig verrostet, so aber ist er es nur dort, wo die Oberfläche nicht abgerieben wurde … Was ist in dieser Kiste?«

      Torrence beugt sich hinunter.

      »Werkzeug. Aber in einem erbärmlichen Zustand, es wird bestimmt nicht oft benutzt.«

      Eine Säge, Nägel, Angelhaken, Eisenringe, ein Durcheinander, wie man es in jedem Haus auf dem Land findet. Alles ist verrostet. Émile untersucht auch diese Dinge sorgfältig. Er zieht eine Lupe aus der Tasche und betrachtet damit eingehend einen schweren Hammer. Er murmelt:

      »Hier ist jedenfalls etwas, das benutzt wurde …«

      Am eisernen Kopf des Hammers kleben ein paar verklumpte Haare, wie von einem eingeschlagenen Schädel.

      Torrence ist nicht überzeugt.

      »Ich dachte, wir würden einen Gehängten suchen. Sollte man Leute neuerdings hängen, indem man ihnen Hammerschläge verpasst?«

      Émile springt auf. Er hat etwas gesehen und eilt auf die andere Seite des alten Kahns. Er schwenkt eine Zeitung, eine Lokalzeitung. Er sucht nach dem Datum – und triumphiert:

      »Das ist die Zeitung von heute. Das heißt, jemand hat kurz vor uns diesen Schuppen betreten, denn soweit ich weiß, trifft die Zeitung nicht vor neun oder zehn Uhr morgens in Ingrannes ein. Wir sollten Madame Dossin einen Besuch abstatten.«

      »Man wird uns nicht einlassen.«

      »Irgendwie müssen wir es schaffen, Chef. Wir müssen uns unbedingt mit dieser Dame unterhalten, die solche mysteriösen Anrufe tätigt …«

      Zehn Minuten später, nachdem Émile den Eisenhaken fotografiert und die Zeitung an einem sicheren Ort verstaut hat, stehen die beiden Männer erneut am Zaun des Schlosses, und der Hund bereitet ihnen denselben Empfang wie zuvor.

      Sie klingeln ein Mal, zwei Mal … Auf einmal bemerkt Émile in einem Fenster des ersten Stocks das Gesicht einer Frau, das, vermutlich wegen der beschlagenen Scheibe, ungesund blass zu sein scheint.

      »Sehen Sie, Chef? Man könnte meinen, sie würde uns Zeichen geben.«

      Das stimmt. Aber was will sie mit ihren Zeichen sagen? Ihre Handbewegungen sind schwer zu deuten. Sie scheint auf etwas zu deuten. Auf den Schuppen? Aber sie kommen doch gerade von dort! Auf etwas, was weiter weg ist? Hinter dem Schuppen ist nur der Teich. Und der Teich ist zugefroren. Will sie vielleicht sagen, dass der Gehängte ins Wasser geworfen wurde? Das ist unmöglich. Was dann?

      »Klingeln Sie noch einmal!«

      Oberhalb der Treppe öffnet sich die Tür. Da steht der Hausherr, eine Pfeife im Mund, und betrachtet sie von Weitem. Wird er kommen, um das Gittertor zu öffnen, oder wird er sie einfach stehen lassen? Das wäre für zwei berühmte Detektive recht beschämend.

      Er scheint nachzudenken, zu zögern. Schließlich dreht er sich um. Er ruft ins Haus hinein.

      »Es würde mich nicht wundern, wenn wir ein paar Schrotkugeln abbekämen«, bemerkt Torrence.

      Aber nein. Auf den Ruf seines Herrn hin taucht ein livrierter Diener auf. Der Herr sagt etwas. Der Diener überquert den Hof, einen großen Schlüssel in der Hand.

      »Wenn die Herren bitte eintreten würden … Monsieur Dossin bittet mich, Ihnen zu sagen, dass Sie doch angesichts der Kälte Ihren Wagen lieber in die Garage fahren sollten …«

      Torrence mag das gar nicht. Diese unvermittelte Fürsorglichkeit beunruhigt ihn etwas.

      Wenn das Auto erst einmal in der Garage steht, jenseits dieses Gittertors, das sich so schwer öffnen lässt, wer weiß, ob sie dann das Schloss noch verlassen können, wenn es ihnen passt?

      »Los!«, flüstert Émile ihm zu.

      Zwanzig Kilometer von Paris entfernt, fünfzehn Kilometer von Pithiviers entfernt – übrigens hat sich Torrence vorgenommen, auf der Rückfahrt eine Täubchenpastete zu erstehen, eine Spezialität der Gegend –, man könnte meinen, sie befänden sich am verlassensten Ort der Welt.

      Der Hund knurrt weiter, aber leise, während er den Fotografen beschnüffelt.

      Der Hausherr steht immer noch in recht vornehmer Haltung oberhalb der Treppe und erwartet sie. In der Garage stehen schon zwei Autos, ein großer amerikanischer Wagen und ein kleiner, wahrscheinlich für die alltäglichen Besorgungen.

      Als die beiden Männer vor Monsieur Dossin stehen, fragt dieser sehr huldvoll:

      »Dürfte ich erfahren, meine Herren, wer von Ihnen der berühmte Detektiv Torrence ist?«

      Torrence verbeugt sich, aber ihm ist nicht wohl dabei. Wer kann ihm verraten haben, wer sie sind? Sein Name ist nicht im Auto zu finden, das man hätte durchsuchen können, während sie im Schuppen waren.

      »Ich wusste nicht, mit wem ich die Ehre hatte … Mein bescheidenes Heim steht Ihnen offen. Darf ich Sie bitten einzutreten?«

      Was das bescheidene Heim betrifft, so finden die beiden Männer überaus komfortable und angenehm temperierte Räumlichkeiten vor. Es handelt sich zwar nicht um ein prunkvolles Schloss, aber um ein großzügiges Landhaus, in dem alles vorhanden ist, was man für ein komfortables Leben benötigt. Sie werden in eine eichengetäfelte Bibliothek geführt. Im Kamin prasselt ein Feuer. Die Sessel sind mit hellem Leder überzogen und zwischen den Teppichen sind herrliche antike Fliesen zu sehen.

      »Ich habe gerade erst erfahren, dass meine Frau Sie heute Morgen angerufen hat.«

      Also hat er sich auf dem Postamt erkundigt. Dort hat er die Nummer erfahren, die seine Frau in Paris verlangte.

      »Setzen Sie sich doch bitte. Vielleicht ein Gläschen Armagnac, bei dieser Kälte?«

      Eine ehrwürdige kleine Flasche, die Gläser aus geschliffenem Kristall. Der Diener ist verschwunden, und der Gastgeber gibt sich herrschaftlicher denn je, doch ein Schatten von Traurigkeit umgibt ihn, wie den Männern nicht entgeht.

      »Ich muss offen sagen, meine Herren, dass ich, als ich Sie heute Morgen, bei Ihrem ersten Besuch, so wenig willkommen hieß, meine guten Gründe hatte, genauer gesagt, einen einzigen schwerwiegenden Grund, der es rechtfertigte, Neugierige von meinem Haus fernzuhalten … Auf Ihr Wohl!«

      »Dieser Armagnac …«, beginnt Torrence.

      »Er ist siebzig Jahre alt. Was ich sagen wollte … Durch Ihren Beruf sind Sie daran gewöhnt, dass man Ihnen dramatische Geständnisse macht. Nun gut, meine Herren, Sie sollen wissen, dass meine arme Frau nicht mehr bei klarem Verstand ist.«

      Seine Stimme ist brüchig geworden. Er senkt den Kopf.

      »Ich habe mich nie dazu durchringen können, sie in ein … ein Hospital zu bringen … Was erklärt …«

      Torrence sieht Émile an, wie um zu erfahren, was er von dieser Mitteilung halten soll. Émile betrachtet mit starrem Blick die Fliesen oder vielmehr die Stiefel ihres Gastgebers, wirklich schöne Stiefel, robust und weich, die glatt an den Beinen anliegen. Man könnte glauben, Émile hätte in diesem Augenblick nur diesen einen