Nadja Bucher

DIE DODERER-GASSE


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Stimmung, fielen ihr die letzten Tränen von den Wimpern, reckte sie ihren Kopf empor, richtete sie ihre Augen geradewegs auf die Welt vor dem Bullauge. Das Klicken der mütterlichen Escarpins auf dem Asphalt untermalte die Fahrt im Kinderwagen. Der wurde über jenen Gehweg geschoben, der mir bereits beim Blick aus dem Kinderzimmer aufgefallen war. Rund um mich ragten acht- bis zehnstöckige Hausfronten in den Himmel, der ein wechselhafter und frühsommerlicher war. Die Monotonie der umstehenden Bauten schien grenzenlos, wie deren Fensterreihen, Stiegeneingänge und rechtwinkelige Blockanordnung. Die herrschende Tristesse wurde durch zweierlei Kunstobjekte versinnbildlicht, als seien sie den Bewohnern dieser Unterkünfte zum Hohn vor die Nase gesetzt worden.

      Neben jeder Haustür prangte ein buntes Mosaik, vielleicht um die Unterscheidbarkeit der Stiegen zu erhöhen, da alleinige Nummerierung selbst den Verursachern dieser Monokultur nicht ausreichend schien. Auf den Darstellungen wurden Tiere in einem Abstraktionsgrad wiedergegeben, der das Unvermögen des Künstlers unverschleiert offenbarte. Die zweite Art enervierender Könnerschaft befand sich freistehend auf den Grünflächen. Wer auch immer dafür verantwortlich zeichnete, hatte die Frechheit aufgebracht, den Baustoff der Stahlbetonsilos für eine ebenso trost- wie farblose Skulptur heranzuziehen. Wobei die Bezeichnung Skulptur für den kubisch aufgetürmten, von Auslassungen durchlöcherten Gussbeton wahrlich unzutreffend, weil weitaus zu hochtrabend war. Vielmehr passte jene Betitelung, die der Verwendung des Klotzes entsprach. Während der Kinderwagen vorüberrollte, sah ich zwei Kinder darauf herumklettern. Sie setzten ihre Füße auf Vorsprünge, stemmten sich daran ab und gelangten bis zur obersten Plattform, die ihnen als Sitzfläche diente, nur kurzzeitig, bis die Kälte des Materials ihren Hosenboden durchströmte und sie von ihrem Spielzeug vertrieb.

      Während Marie den Kopf oben hielt und die Mutter den Kinderwagen zur Straße hin lenkte, befiel mich beim Anblick dieses weitreichenden architektonischen Verbrechens tiefer Missmut. Wie sollte Marie im Schatten dieser Betonpflöcke (und tatsächlich schob die Mutter den Kinderwagen seit Verlassen des Hauses kontinuierlich durch den Schlagschatten des Hochhauses), wie sollte Marie in einer solchen Umgebung ein Gespür für Schönheit entwickeln? In diesem Umfeld könnte bei noch so empfängnisbereiten Anlagen kein Keim austreiben, fehlte diesem nicht nur Nährboden, sondern auch Licht und Wasser, von sorgfältiger Pflege oder gar Düngung nicht zu reden.

      Durch die Luke erkannte ich, dass der Weg in das Trottoir einer von Grünstreifen abgetrennten, autobefahrenen Straße einmündete. Ein Autobus Numero 29A brauste vorbei, was Marie zu einem erschrockenen Lächeln reizte. Die beidseitig verparkte Straße trennte den Betonkomplex von einer Ansammlung kleinerer Einfamilienhäuser, die von Gärten und dazugehörigen Zäunen umgeben waren. Aus einiger Entfernung wirkten die Wohnblöcke, als hätte ein Riese seine Bauklötze auf die grüne Wiese fallen lassen. Mir kam die Erinnerung an meine früheren Orte in den Sinn. Wie anders waren die Häuser der Porzellangasse, durch die Tramway in aiolisches Getön versetzt, am barocken Palais Liechtenstein vorbei bis hinauf zum Althanplatz mit seinen imposanten Fassaden und hinunter zum Donaukanal, wo der Strom die Stadt durchzieht. Wie könnte Marie sich entfalten, wenn alles, was sie umgab, erdrückend war? Ich sah die Feuermauer eines weiteren glatten Baukastens, der das Bildnis totaler Ausweglosigkeit vervollkommnete. Ich las die Aufschrift:

      WOHNHAUSANLAGE DER GEMEINDE WIEN, ERBAUT IN DEN JAHREN 1971 BIS 1973

      Das war es also, wohin es mich verschlagen hatte. Nach Herrschaftshäusern, Villen und Stadtpalais war ich im Gemeindebau gelandet. Eine Übelkeit versuchte aufzusteigen, und da es nicht mein Körper sein konnte, der Rebellion ankündigte, lag die Vermutung nahe, meine Trübsal schlüge sich auf Maries Magen. Ihre wachsende Unruhe bestätigte mir, dass mein ästhetisches Empfinden sowie stilistische Werturteile für sie Geltung hatten. Der Konnex zwischen uns – und erstmals dachte ich an ein wir bei Marie und mir –, unsere Verbindung würde mir ein Einwirken auf dieses unfertige Wesen ermöglichen.

      Plötzlich überholten Kinder den Wagen, riefen einander Unverständliches zu. Sie sahen gewöhnlich aus, wirkten ein wenig gestutzt, in ihren Anlagen gehemmt, als wären sie vor einsetzender Entwicklung bereits ausgebremst worden. All das erhaschte ich durch beiläufigen Blick, da sie direkt am Ausguck des Wagens vorüberliefen. Vorzeitig abgestumpfte Kinder mit platten Nasen, kurzen Hälsen und mehrfach geflickter, über Generationen von Geschwistern abgetragener Gebrauchskleidung. Ein grauenerregendes Fluidum umgab diese Bagage, von denen bereits in ihrem zarten Alter Beängstigendes ausging.

      Maries Kopf wurde schwerer, auch ihre Augenlider sanken immer öfter hinab, was meine Beobachtungen behinderte. Ich schloss daraus, dass das Rumpeln des Kinderwagens sie einschläferte, was wohl der Absicht der Mutter entsprach. Ich wünschte, Marie hielte noch ein Weilchen durch, um mir längere Aussicht zu gewähren. Ihr fiel der Kopf auf den Polster, aber sie mühte sich, anrückendem Schlaf zu widerstehen. Mit aller Kraft brachte sie ihr Haupt wieder hoch, riss ihre Augen auf, verschaffte mir Ausblick. Und der Aufwand lohnte sich. Wir näherten uns einer Kreuzung, ich sah ein Straßenschild. Es durchzuckte mich. Doderergasse, las ich ab.

      Doderergasse!

      Stolz und Entrüstung fuhren in mich wie ein heißer Blitz, dem man auszuweichen sucht, aber der dennoch trifft, weil man zielstrebig verfolgt worden war, er es auf einen abgesehen hatte. Dieser freudlose Ort am Ende von Wien war zweifelsohne nach mir benannt worden. Ich war geschmeichelt, aber in noch größerem Maße beleidigt. Namensgeber für eine solche Gasse? Doderergasse – ein Gässchen?! Dessen Bewohner mit Sicherheit nicht wussten, wer oder was ein Doderer war. Eine Frechheit, die mir post mortem angetan worden war, als hätten all die sträflichen Vernachlässigungen zu Lebzeiten nicht genügt.

      Aber da hinein in diesen gemischt-gefühligen Moment dämmerte mir, dass es kein bloßer Zufall sein konnte. Ich, neugeboren in einer nach mir benannten Gasse, auf engstem Raum in Lebensgemeinschaft mit einem Mädchen. Dahinter musste sich Absicht verbergen. Sollte Marie mein Anfang sein? Meine Möglichkeit, ein neues Leben zu verwirklichen? Könnte ich aus ihr allein mein neues Dasein gebären? Ich wollte tiefer sinken, eindringen, hinuntersteigen zum Boden dieses Gedankens, aber Marie schlief ein und mein Bewusstsein pausierte.

      FRÜHSOMMERLICHE HITZE DRÜCKTE durchs offene Fenster ins Kinderzimmer. Der dünne Vorhang war zwecks leichteren Luftaustauschs zur Seite gerückt worden und schwang schwach aus, zu müde für heftigere Exaltationen. Wer sich hingegen wach und unbeeindruckt von jedweder Temperatur zeigte, war Marie. Sie zog sich an den Holzstäben des Gitterbetts hoch, ein Kunststück, das ihr bereits seit einigen Tagen gelang und welches ich maßgeblich als Resultat meiner beharrlichen Unterweisungen betrachtete.

      Auf wackeligen Beinen stand sie im Bett, wippte kräftig auf und ab, sodass ihre schwere Stoffwindel etappenweise abwärts rutschte, was dem Kind zufriedenstes Lachen entlockte und mich mit zunehmender Geruchsbelästigung quälte. Marie blickte an sich herab, bemaß den von ihrer Windel zurückgelegten Weg, den sie mit weiteren Hüpfern zu vergrößern trachtete. Natürlich hätte ich sie von ihrem fragwürdigen Vergnügen abbringen und zu geistreicherer Tätigkeit hinleiten können, doch galt es, Marie bei Laune zu halten, sonst würde sie künftige Mitarbeit verweigern, worauf unmäßig viel Zeit für die Rückeroberung ihrer Bereitschaft aufgewendet werden müsste. Daher unterdrückte ich meine Übelkeit, die ohnehin nur noch überkommene Konvention sein konnte, und überließ Marie ihrer kindlichen Freude über die neu entdeckte Wirkmacht ihres Tuns. Ich lenkte mich mit der Betrachtung des trägen Vorhangs ab, versuchte Sonnenverlauf und Wolkenbildung unter Beobachtung zu halten und gönnte mir zwischenzeitlich einige abfällige Bemerkungen zur Wanddekoration, die zweifelsfrei eine wenig zu empfehlende Geschmacksrichtung anzeigte, einschließlich einiger Mutmaßungen über Maries Eltern, die jene Entgleisung zu verantworten hatten.

      Animiert von meinem Werturteil, widmete auch Marie der Tapete nähere Beachtung. Mit einer Hand klammerte sie sich zwecks gesicherter Stabilität am Gitterstab fest, die andere streckte sie aus und berührte die Wand, respektive die sich darauf befindliche Tapezierung. Ihr entkam ein Laut höchsten Entzückens. Zusätzlich meinte sie: »Da«, und klatschte ihre Handfläche auf die grafisch reduzierte Wiedergabe von gelb-braunen Blumen. Einige Male wiederholte sich dieser Vorgang, dann hielt Marie inne und ertastete mit ausgestrecktem Zeigefinger den Zusammenstoß zweier Tapetenbahnen. Andächtig