verraten: Mit einem Restaurant hatte diese Mission nichts zu tun.
Vorsichtig schlich sie die Kellertreppe hinunter. Und wenn der Schlüssel da gar nicht lag, wie Irina gemeint hatte?
Hier war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte.
Plötzlich surrte das alte Nokia-Handy, das Therese ihr gegeben hatte, in der Hosentasche ihrer Jeans. Wahrscheinlich machte die alte Frau sich Sorgen, wo sie abgeblieben war.
Sie tastete auf einem schmalen Fenstersims nach dem Aschenbecher. Tatsächlich, da stand etwas, das sich wie ein schwerer Stein anfühlte. Darunter kam in dem Lichthauch, der bis in die Treppenwinkel drang, ein silberner großer Schlüssel zum Vorschein.
»Abends betrinkt Vladan sich, obwohl er der Aufseher ist«, hatte Irina gemeint, »und dann steht er vor der Tür und raucht, und wenn die Tür zuschlägt und er den Schlüssel vergessen hat, kommt er durch den Keller ins Haus zurück.«
Sie nahm den Schlüssel, der sich wie ein Stück Eis anfühlte. Das Handy surrte immer noch. Mit größter Vorsicht schob sie den Schlüssel ins Schloss.
War es ein Fehler, dass sie ihre Sachen holen wollte? Nein, das Geld gehörte ihr und die Fotos und ihre wenigen Sachen, der Wollpullover, den ihre Großmutter ihr zum zwanzigsten Geburtstag gestrickt hatte. Diese Sachen konnte sie nicht einfach aufgeben. Und in ein paar Tagen war sie zurück, bei ihrem Großvater und den Schmetterlingen. Deutschland ist schön, würde sie ihre Großeltern belügen, aber es ist nichts für mich – zu laut, zu viel Verkehr und die Sprache verstehe ich auch nicht so richtig. Sibiu und euer Haus sind meine Heimat.
Das Surren des Telefons hörte auf. Geräuschlos drehte sie den Schlüssel herum. Mit einem leisen Knirschen drückte sie die Klinke herunter. Die Metalltür sprang sofort aus dem Schloss. Sie drückte die Tür einen Spaltbreit auf. Sie hatte keine Taschenlampe dabei, aber ihr Handy verbreitete ein wenig Licht. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Sie hoffte, dass es nicht abgeschlossen war, aber falls doch, hatte sie sich von Therese einen Dietrich geliehen, na, ausgeborgt, ohne sie danach zu fragen.
Nach zwei Schritten in den Keller hinein lauschte sie. War da irgendwo jemand? Nein, nur ihr Herz schlug hart und sandte ein dumpfes Pochen bis in ihre Ohren hinauf.
Geh nicht weiter, sagte ihr dieses Pochen. Es ist dumm, was du tust. Du bist hier abgehauen, und nur für ein paar Geldscheine und ein paar Erinnerungsfotos kehrst du zurück – zu einem Mann wie Vladan, der dich einsperrt hat.
Sie zögerte. Sie sollte auf ihr Herz hören. Bei Florim hatte sie es auch getan, obschon er sie dann betrogen hatte. Florim mit den langen blonden Haaren, der ihr die Unschuld genommen hatte.
Sie seufzte; es klang viel zu laut, ein Geräusch, das sie selbst erschreckte.
Großvater, flüsterte sie stumm, ich habe versprochen, sofort zurückzukommen, wenn es mir hier nicht gefällt. Und du hattest recht: Es gefällt mir nicht. Ich will zurück in unser langweiliges Dorf, ich will dir zusehen, wie du deine Ziegel brennst, und dann will ich mit dir über die Wiese gehen zu den Schmetterlingen und zu deinen Bienen, oder wir pflücken Arnika und bringen sie zu Daria, die es an den Apotheker in Sibiu verkauft.
Sie wandte sich um. Sie würde auf ihr Herz hören. Ja, das würde sie tun – sie würde zurück zu der alten Frau gehen und dann mit der Eisenbahn nach Rumänien fahren – ohne Geld und ohne ihren Pullover und ihre Fotografien.
Immer mehr, immer schnellere Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Zurück, ja zurück nach Daia, ihr Dorf, zu dem Großvater und seiner kleinen Werkstatt.
Doch da, kaum dass sie einen Schritt retour in Richtung Tür gemacht hatte, sprang ein Licht über ihr an, ein gleißendes, hässliches Licht, das ihr in den Augen wehtat und ein hartes Netz aus grellweißen Strahlen über sie warf.
Vladan stand auf der Treppe. Sein Schnauzbart verzog sich, seine Zähne sprangen darunter hervor, er grinste. Er war kein bisschen betrunken.
»Schön, dass du wieder da bist, Julika«, sagte er auf Rumänisch. Seine Stimme klang heiser, als hätte er den ganzen Tag geschrien. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.« Sein Grinsen erfasste nun auch seine Augen.
Nun musst du aber abhauen, sagte ihr Herz, ganz schnell. Die Beine in die Hand nehmen, sozusagen.
Aber nein – das, was Vladan, da in der Faust hielt, war schwarz und aus Metall, der kurze Lauf einer Pistole, die eindeutig auf sie gerichtet war.
2
»Bordeaux«, hatte Nadine gesagt, »hast du Lust, mit mir nach Bordeaux zu fliegen? Wir fliegen am Dienstag hin und kommen am Freitag zurück. Ein alter Freund von mir inszeniert dort an der Oper. ›Fidelio‹ – deutsch mit französischen Untertiteln –, keine ganz leichte Angelegenheit.«
Seit zwei Monaten sahen sie sich regelmäßig, aber waren sie zusammen? Nein, wohl nicht. Zu mehr als ein paar zarten Wangenküssen war es bisher nicht gekommen, noch nie hatte Schiller bei ihr übernachtet, obschon sie nur eine Etage unter ihm wohnte. Einmal, als er sie vom Theater abgeholt hatte, hatte Nadine mit einem Regisseur, einem typischen Schönling mit Dreitagebart, und einer jungen Schauspielerin zusammengestanden. Sie hatte ihn recht uncharmant als ihren Nachbarn vorgestellt.
Trotzdem hatte er sofort Ja gesagt. Es würde ihm guttun, einmal aus Köln herauszukommen. Drei Brandanschläge auf Autos von lokalen Politikern hatte er zu ermitteln. Nichts, was keinen Aufschub duldete.
Erst als er begann, seine Sachen zu packen, wurde ihm wieder mulmig zumute. Er hatte nicht nachgefragt, wo sie übernachten würden. Bei diesem Freund? Und er sprach kein Wort Französisch – nichts außer oui und non und café au lait. Es könnte peinlich werden, tumb und sprachlos neben Nadine herzulaufen, die wahrscheinlich fließend Französisch sprach. Er war nur ein Polizist, großer Gott! Mit ein wenig Englisch in internationalen Fällen kam man da prächtig durch. Und von Oper verstand er auch rein gar nichts. Einmal war er mit Carla in der Kölner Oper gewesen – er erinnerte sich nur daran, dass eine zu korpulente Sängerin, die nicht tanzen konnte, mit einem Männerkopf, der eindeutig aus Wachs gewesen war und auf einem Tablett gelegen hatte, herumgehüpft war. Nein, eigentlich war die Oper nichts für ihn.
Aber Nadine nur neben sich zu wissen, im Flugzeug, wenn sie die Augen für Momente schloss, ihr wunderschönes Profil zu sehen, würde ihn für alles entschädigen. Er war verliebt in sie. Ja, das war er wirklich.
Die Maschine würde morgen in Köln um sieben Uhr dreißig abheben – und er würde neben ihr sitzen. Auf jeden Fall.
Während er ein paar Kleidungsstücke zusammensuchte, lauschte er, ob Nadine nach Hause kam. Es war erst siebzehn Uhr. Er hatte das Präsidium bereits am frühen Nachmittag verlassen, aber sie musste noch eine Premiere vorbereiten, ein Stück über den Dreißigjährigen Krieg, das sie als Dramaturgin bearbeitet hatte.
Als er Schritte im Treppenhaus hörte und es dann an seiner Tür klingelte, spürte er, dass all seine Befürchtungen von ihm abfielen. Auch wenn er dumpf und stumm hinter ihr herlaufen würde, ein langes Wochenende mit Nadine an einem warmen südlichen Ort – etwas Schöneres könnte ihm nicht passieren.
Er hörte ein leises Schnaufen, gefolgt von einem langen Seufzen, während er die Tür noch nicht ganz geöffnet hatte. Nicht Nadine stand vor der Tür, sondern Therese, die alte Hebamme, nun fast vierundachtzig Jahre alt und nach dem frühen Tod seiner Eltern die Frau, die ihn all die Jahre begleitet hatte.
Therese trug wie immer ihren babyblauen Wollmantel, sie hielt ihre abgewetzte braune Ledertasche in der Armbeuge, obschon sie nun keine Hausgeburten mehr betreute, und lächelte. »Jan«, keuchte sie, »mein Junge. Die Haustür war offen. Da musste ich nicht klingeln. Ich brauche einen Kaffee, ganz dringend. Du hast doch richtigen Kaffee?«
Sie nahm ihm immer noch übel, dass Carla und er sich getrennt hatten, und war erst ein Mal in seiner neuen Wohnung gewesen. Ungewöhnlich missgelaunt hatte sie sich umgesehen und war nach einer halben Stunde wieder gegangen – mit den Worten: »Ich komme erst wieder, wenn du dir ein paar vernünftige Möbel angeschafft hast.«
»Natürlich