>Gian Maria Calonder
Engadiner Bescherung
Ein Mord für Massimo Capaul
Roman
Kampa
I
Massimo Capaul war froh um etwas Abstand, als er am Morgen des 24. Dezember kurz vor Tagesanbruch ins Auto stieg, um von Lavin aus zu seinem neuen Einsatzort zu fahren. Die Luft war schneidend kalt, das Licht noch nachtblau. Er bog auf die Kantonsstraße ein und fuhr zwischen steilen Berghängen dem Oberengadin entgegen. Die Fahrbahn gehörte ganz ihm, keine anderen Autos, keine Hirsche. Die letzten Wochen mit Meta waren schwierig gewesen. Um sich abzulenken, drehte er das Radio an und hörte etwas von Bach, »Süßer Trost, mein Jesus kömmt«. Auch nicht gerade fröhliche Musik, doch immerhin hielt sie ihn vom Grübeln ab.
Vor Zernez weitete sich das Tal, die Schneefelder schimmerten wie Hochzeitsschleier, und der Himmel färbte sich stahlblau. Scharf stachen die Berggrate ab, die Sicht war ausgesprochen klar, die Landschaft wie geätzt. Nur an einzelnen Gipfeln hingen gleißende Fahnen von Schneestaub und vernebelten die Sicht, dort oben tobten offensichtlich Stürme.
Auch über den Talboden jagten vereinzelt Windstöße, einer war so heftig, dass Capauls metallisch grüner Crysler Imperial, ein Erbstück aus den Achtzigerjahren, ins Schlingern geriet. »Hoppla«, rief er und gab Gegensteuer, um nicht im vereisten Inn zu landen. Danach war er hellwach und lachte, als er an den Namen dachte, den diese Winde bei den Einheimischen hatten. Denn sie waren nichts Ungewöhnliches, am Flugplatz Samedan zwangen sie manchmal ein landendes Flugzeug zu einer Ehrenrunde. Da sie vor allem zur Morgen- und Abenddämmerung auftraten, hießen sie im Volksmund »tofs dal gial«, Hahnenfürze.
Das hatte er von Meta gelernt, nun dachte er doch wieder an sie. Aber inzwischen fühlte er eine wohltuende Distanz.
Dass die Adventszeit für Meta schwierig würde, war zu erwarten gewesen. Capaul kannte das Phänomen von seiner Arbeit im Sterbehospiz, und Meta war erst seit ein paar Wochen Witwe. Dazu hatte Tumaschs Tod all die Erinnerungen an Clas Unfall wieder hochgeholt, der zwar schon sieben Jahre her war, doch nachts sah sie ihren toten Sohn vor sich, als sei er eben erst gestorben, und die Bilder verfolgten sie bis in den Tag hinein. Capaul zog sich zurück, wann immer es ging, aber in Luft auflösen konnte er sich nicht. Solange er den Schlüsselbeinbruch kurierte, war er krankgeschrieben, und in einem Bergdorf wie Lavin gibt es im Winter neben dem Sport nicht viele Arten, um sich die Zeit zu vertreiben. Beim Trödler in Zernez hatte er eine Gitarre gekauft und schrummte in seinem Zimmer, bis die Schulter schmerzte, außerdem las er – Tumasch hatte eine fast vollständige Sammlung Karl May hinterlassen. Trotzdem waren sie beide froh gewesen, als sein Vorgesetzter Gisler angerufen hatte, um zu fragen, ob er für einen leichten Einsatz wieder fit sei.
»Ja, unbedingt«, hatte er gerufen.
»Schön«, sagte Gisler, »dann werden Sie von Heiligabend bis Dreikönig nach St. Moritz ausgeliehen, mit Logis vor Ort. Um sieben Uhr dreißig treten Sie an.« Was genau Capaul erwarten würde, verriet er nicht.
Das Radio sendete Nachrichten, und Capaul schaltete ab. Es war nun fast Tag, die Landschaft hatte ihren Zauber verloren, inzwischen herrschte auch viel Verkehr. Beim Samedaner Kreisel zögerte er kurz, ob er nicht auf dem Revier vorbeischauen und Jon Luca und Linard Hallo sagen sollte. Doch vor St. Moritz musste er mit Stau rechnen, so fuhr er durch.
Und das war gut so, denn irrtümlich fuhr er zuerst zum Posten der Kantonspolizei, der an der Seestraße lag. »Wir erwarten hier keinen«, versicherte ihm der diensthabende Gefreite Meierhans, »und wir brauchen auch keinen. Frag mal oben.«
»Wo oben?«
»Bei der Gemeindepolizei. Hundemarkendienst. Via Quadrellas 7.«
Die Gemeindepolizei St. Moritz residierte buchstäblich auf dem Dach des Parkhauses, in einem schmucklosen Flachbau mit Blick weit übers Engadin. Während Capaul einparkte, stieg gerade die Sonne über den Piz Rosatsch. Wie er sich so schwer und formlos über die makellose Ebene erhob, erinnerte er an einen beim Stürzen in sich zusammengefallenen und mit zu viel Puderzucker kaschierten Pudding. Ein älterer Polizist trat ans Fenster, um die Jalousie herunterzukurbeln. Er winkte, als er Capaul aussteigen sah, und hielt ihm die Tür auf. Wie die meisten Einheimischen war er kräftig gebräunt, der orangene Farbstich seiner Haut ließ allerdings eher auf Solarium als auf Skitouren tippen. Das blondierte Haar war fesch zurückgekämmt, darin glänzte eine hochgeschobene Spiegelbrille. Dazu benutzte er ein sehr vornehm riechendes Aftershave mit Nadelholznote.
»Ich bin Ralf«, sagte er, während er Capaul warmherzig die Hand schüttelte, »und das ist Claude.«
Der saß hinterm Tresen, eine Kaffeetasse von Eduscho vor sich, und fuhr gerade den Computer hoch. Er glich Ralf fast bis aufs Haar. Nur ließ er seine Sonnenbrille in italienischer Manier salopp auf dem Kinn ruhen, und als Capaul ihm die Hand gab, roch er Orangenduft.
»Danke, dass du uns aushilfst.« Ralf reichte auch Capaul eine Tasse. Darin war kein Kaffee, sondern Tee. Und auch nicht irgendein Tee.
»Biologischer Jun Chiyabari aus Nepal«, erklärte Ralf. »Die Tassen sind bloß Tarnung.«
»Was ist meine Aufgabe?«, fragte Capaul und nippte an der Tasse.
»Vielleicht kannst du uns weiterhelfen«, schaltete sich Claude ein. »Wir diskutieren gerade, ob der heutige Tag Heiligabend heißt oder nur der Abend …«
»… und der Tag womöglich Heiligtag oder Vorweihnachtstag oder noch anders«, ergänzte Ralf.
Beide sahen ihn gespannt an.
Capaul musste lachen. »Habt ihr mich deshalb kommen lassen?«
»Nein, aber kannst du uns helfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Bei uns zu Hause war Weihnachten kein Thema. Doch, als ich klein war. Aber ein trauriges.«
Sie fragten nicht nach. Ihre betrübten Mienen schienen auch kein Mitleid zu sein, nur Bedauern darüber, dass er in dieser Frage so nutzlos war.
Claude wandte sich seufzend wieder dem Computer zu, Ralf murmelte: »Man kann nicht alles haben«, stellte den Teekrug weg und erklärte: »Wir brauchen dich als Ladenhüter. Das ist kein schwerer Dienst, doch einer, der Präsenz verlangt. Du flanierst in unregelmäßigen Abständen die Via Serlas und die Via Maistra entlang und markierst Präsenz.«
»Das ist alles?«, wunderte sich Capaul. »Zwei Wochen lang? Und warum nur die beiden Straßen?«
Ralf und Claude tauschten einen Blick, als fragten sie sich, wen man ihnen da eigentlich geschickt hatte. Dann sagte Ralf: »Weil in diesen beiden Straßen Bulgari zu Hause ist, Hauser & Wirth, Gucci, Louis Vuitton, Bogner, Dolce & Cabanna …«
»Cartier, Eleuteri, Gismondi, Santoni, Breitling, Miu Miu, Cuccinelli, Marguerite, Asprey, Choppard«, ergänzte Claude, während er weiter den Bildschirm fixierte.
»Du kannst natürlich auch einen Abstecher in die Via Veglia machen zu Hermès, oder in die Serletta.«
»Verstehe«, sagte Capaul. »Aber warum habt ihr mich nicht eher angefordert? Wird nicht vor Weihnachten am meisten gestohlen?«
»Bei uns wird überhaupt nicht gestohlen«, stellte Ralf klar. »Es geht nur darum, dass unsere Gäste sich sicher fühlen. Und die reisen erst jetzt an, heute eine Handvoll, nach den Feiertagen dann wird es richtig voll, dann ist St. Moritz der Ort mit der höchsten Milliardärsdichte weltweit.«
»Behauptet er.« Claude zwinkerte Capaul zu.
»Schön, das leuchtet ein«, sagte Capaul. »Aber warum tut ihr das nicht selber?«
Ralf lächelte. »Erstens sind wir nicht mehr so gut auf den Beinen, wir werden beide nächstes Jahr vierundsechzig, auch wenn man mir das nicht ansieht. Zweitens, wer führt hier den Betrieb weiter? Es gibt allerhand zu tun: Fundsachen und Suchaufträge entgegennehmen, Hundemarken und Mofa-Vignetten ausgeben …«
»Verkehrszählungen durchführen, Fischereipatente kontrollieren, gebührenpflichtige Parkplätze überwachen …«
»Schon gut, schon gut.« Capaul stellte die Tasse ab und wandte