Gian Maria Calonder

Engadiner Bescherung


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Abend am 24. Dezember, auch Heiligabend oder Weihnachtsabend genannt, ist der Vorabend des Weihnachtsfestes. Vielerorts‹ – jetzt kommt’s! –, ›vielerorts wird auch der ganze Vortag so bezeichnet.‹«

      Ralf schnaubte durch die Nase. »Schön, das beantwortet aber nicht die Frage, ob es für den heutigen Tag nicht auch einen anderen Namen gibt.«

      »Doch, tut es, ex negativo. Frag ihn.«

      »Zieh nicht immer andere mit rein«, sagte Ralf scharf und beugte sich über Claude, um nachzulesen, was auf dem Bildschirm stand.

      »Dabei fällt mir ein«, sagte Claude zu Capaul und stand auf, »dass du in Samedan auf dem Revier erwartet wirst.«

      »Wozu das?«, wunderte sich Capaul.

      »Angeblich wartet dort Post auf dich.«

      »Das kann nichts Dringendes sein.«

      »Und hier«, Claude reichte ihm einen Zettel, »wohnst du die nächsten zwei Wochen. Das ist gleich da vorn, schräg gegenüber dem kleinen Coop.«

      »Wie ist es mit der Uniform?«, fiel Capaul noch ein. »Ich stehe ja jetzt in eurem Dienst.«

      »Nein, so kann man das nicht sehen«, erwiderte Claude. »Und Hauptsache, du machst was her.«

      Nachdem Capaul den Zettel in die Jackentasche gesteckt hatte, ging er durch den alten, mit Kopfstein gepflasterten Dorfkern hinunter zur Via Serlas. Zur Weihnachtszeit hätte er hier Pomp und Kitsch erwartet, doch in den Schaufenstern fand sich nur hier und da etwas Kunstschnee oder ein paar Kugeln, und die wenigen Lichtergirlanden, die einige Straßen überspannten, zeigten nicht etwa Weihnachtsmotive, sondern entweder die Sonne, Wahrzeichen von St. Moritz, oder aber den Turm des vornehmsten Hotels am Platz, des Badrutt’s Palace. Vor dem Eingang des Badrutt’s Palace stand auch ein sicher zehn Meter hoher, mit Kugeln geschmückter Christbaum.

      Da all die Boutiquen, Juwelierläden und Galerien noch zuhatten, vertrieb er sich die Zeit damit, den antiken Rolls-Royce zu inspizieren, der in der Einfahrt des Badrutt’s Palace parkte, eine Limousine mit Minibar, einer New York Times im Zeitungsfach und einem auf Hochglanz polierten Kennzeichen mit der Nummer 163.

      Als eine zierliche Dame in Strickjacke und Fellboots sich damit abmühte, das schwere Metallgitter vor einer Kaschmirboutique aufzustemmen, ging er ihr dabei zur Hand und erntete ein flüchtiges Lächeln.

      »Übrigens bin ich die nächsten zwei Wochen Ihr Wachhund.«

      Das Lächeln verschwand schlagartig.

      »Sie sehen höchstens wie ein Pudel aus. Hoffentlich gehen Sie vorher noch zum Friseur.«

      Capaul fasste sich verlegen ins schwarze Wuschelhaar, das er sich zuletzt im Sommer vor den Abschlussprüfungen der Polizeischule hatte schneiden lassen.

      »Na ja, vielleicht bin ich auch mehr Ihr Schutzengel«, witzelte er. »Ihr Lockenengel.«

      Die Dame fand daran nichts zu lachen.

      »Ich weiß nicht, wer Ihre Vorgesetzten sind. Doch Haare, die über den Uniformkragen wachsen, so was geht hier gar nicht. In St. Moritz verkehrt die vornehmste Gesellschaft. Jedem, der hier arbeitet, muss es eine Ehre sein, ihr dienen zu dürfen. Da ist ein akkurater Haarschnitt das Mindeste.« Sie schnupperte mit einem Anflug von Ekel. »Und ein Aftershave, das seinem Namen gerecht wird.«

      »Das lässt sich alles regeln«, versicherte er. »Am besten gehe ich gleich zum Friseur, solange die Läden zu sind. Wo ist denn der nächste?«

      »Im Badrutt’s Palace«, sagte sie. »Aber da vorn, gleich hinterm Kreisel, ist auch einer.«

      Als Capaul den Kreisel umlief, schlug eine Uhr neun, und wie von Geisterhand ging im Friseursalon das Licht an, denn als er eintrat, war da niemand. Er wartete kurz bei der Tür, dann ließ er sich in einem der schicken Schalensessel nieder, in denen man hier offenbar frisiert wurde.

      »Was kann ich für Sie tun?«, fragte ein junger Mann mit Tendenz zur Anorexie und kam mit einem Stapel Handtücher aus dem Hinterraum.

      »Einmal schneiden, bitte.«

      »Wie ist der werte Name?«

      »Capaul, warum?«

      »Einen Capaul habe ich nicht auf der Liste.«

      »Ich bin auch nicht angemeldet, aber es ist ja niemand sonst da.«

      »Unmöglich«, sagte der Junge und wandte sich ab, um die Tücher zu platzieren. »Wir sind vollkommen ausgebucht.«

      Und wirklich, die Tür ging auf, und eine Gruppe angeregt plaudernder Frauen trat ein.

      »Mir reicht schon, wenn Sie hinten einfach einmal mit der Maschine durchgehen«, erklärte Capaul, »das ist eine Sache von einer Minute.«

      »Wir haben hier keine solche Maschinen«, fauchte der Junge, während er an ihm vorbei zu den Frauen eilte, um ihnen aus dem Mantel zu helfen.

      »Oder mit der Schere.«

      »Darf ich Sie jetzt bitten, Platz zu machen.«

      Capaul erhob sich. »Können Sie mir einen anderen Friseur empfehlen?«

      Der Junge hielt ihm die Tür auf.

      »Ich fürchte, heute bekommen Sie nirgends mehr einen Termin, es ist Weihnachten.«

      Eine der Frauen rief gut gelaunt: »Heiligabend, Schatz, Weihnachten ist erst morgen«, dann schloss sich die Tür hinter Capaul.

      Capaul entschied, sein Quartier zu beziehen. Vielleicht fand sich dort eine Schere, mit der er sein Problem lösen konnte.

      Besagter kleiner Coop lag nur etwa hundert Meter dorfaufwärts. Die Via Mulin machte dort eine scharfe Biegung. »Im Spielzeugladen melden«, hatte Claude auf den Zettel geschrieben. Der war geschlossen. Auf Capauls Klopfen hin kam aber ein gewisser Herr Jecklin mit Halbglatze und rotem Pullunder an die Tür, murrte etwas und führte Capaul außen herum zu einer Art Kellereingang.

      »Nur eine Person, ist das klar?«, erklärte Jecklin, während er vor ihm einen engen betonierten Flur entlangging, in dem eine einsame vergitterte Lampe brannte, dann schloss er eine schmale und ungewöhnlich dicke Tür auf.

      »Das ist ja fast ein Bunker«, stellte Capaul fest. Es hatte scherzhaft klingen sollen, doch Jecklin drehte sich ruckartig um, sah ihn böse an und erklärte: »Wem es hier nicht passt, der kann wieder gehen. Ich kriege das Zimmer noch zehnmal los.«

      »Nein, nein«, beschwichtigte ihn Capaul, »ich habe auch nichts gegen Bunker.«

      Jecklin blieb in der Tür stehen und wartete, bis Capaul sich vorbeigequetscht hatte, dann ging er ihm nach, um Licht zu machen, denn Tageslicht drang nur in homöopathischen Dosen durch einen vergitterten Schacht. Dazu waren die Wände mit einer schiefergrauen Stofftapete bespannt. Es war mehr eine Gruft als ein Zimmer. Auch die Lampe, die Jecklin anknipste, hatte maximal zehn Watt Leistung.

      Er wiederholte: »Nur eine Person, haben Sie gehört?«

      Das Zimmer wurde von der Pritsche, einem weißen Plastiksessel und einem Tischlein mit Wachstuchdecke und Hocker fast völlig ausgefüllt, Capaul konnte sich nicht vorstellen, dass mehr als ein Mensch hier überhaupt Platz fand.

      »Wo kann ich mich waschen?«, fragte er.

      »Das ist überhaupt der Clou«, sagte Jecklin um eine Spur freundlicher und öffnete den zweitürigen Wandschrank. Links verbarg sich eine Nasszelle, kleiner als eine Telefonkabine, rechts eine Kochnische. Nachdem Jecklin am Gerät selbst einen kleinen Röhrenfernseher angeschaltet hatte, der oben in einer Zimmerecke hing, knipste er ihn mit der Fernbedienung wieder aus, legte das Kästchen auf die Pritsche und ließ ihn allein.

      Capaul dachte dankbar, dass es bis Lavin nur eine knappe Stunde Fahrt war, er konnte sich schlecht vorstellen, hier zwei Wochen zu verbringen. Aber das Abenteuer amüsierte ihn auch. Während er die Zwergenküche nach einer Schere durchsuchte, klingelte sein Handy. Auf dem Display stand: »Revier Samedan«.