Inger Gammelgaard Madsen

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10


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Nachricht und nickte ihr zu. Seine Augen waren dunkel und zornig und der Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Sie verstand ihn gut. Das Ganze hing jetzt von ihm ab. Abdul-Jabaar hieß er, erinnerte sie sich nun, und nickte zurück. Sie warf einen letzten Blick auf das Kind im Buggy, die Frau lächelte ihr wieder zu und es schmerzte tief unten in der Brust. Es war noch nicht lange her, dass ihr eigener Sohn in diesem Alter gewesen war. Aber jetzt gab es keinen Weg zurück. Sobald der Bus hielt, eilte sie hinaus.

      Die Sonne schien auf den regennassen schwarzen Asphalt. Sie lief über die Straße, als die Autos bei rot stehen blieben, wurde aber beinahe von einem Radfahrer angefahren, als sie den Radweg kreuzte. Sie eilte ins Bushäuschen, während sie die Handfläche an der Abaya abwischte, sodass der Text, den sie darauf geschrieben hatte, verschwand. Der Plan im Häuschen zeigte, dass es eine Weile dauern würde, bis der Bus in die Gegenrichtung kam. Der Schweiß lief unter dem Niqab. Sie sah Abdul-Jabaars Bus nach, der zurück in den Verkehr glitt und weiterfuhr, nachdem sich noch mehr Menschen hineingezwängt hatten. Der Bus war brechend voll.

      Jetzt war es vorbei. Sie hatte getan, was sie tun sollte. Die Beine gaben unter ihr nach und sie musste sich auf die Bank im Bushäuschen setzen. Dort wartete bereits ein weißhaariges Rentnerpärchen in beigefarbenen Windjacken. Sie rutschten etwas beiseite, taten aber sonst, als ob sie sie nicht sahen.

      Plötzlich wurde der Verkehrslärm von schneidendem Sirenengeheul übertönt.

      „Was zur Hölle ist da los?“, rief der Mann und deutete mit dem Stock auf die Fahrbahn, wo ein Polizeiauto in rasantem Tempo vorbeidüste und vor den Bus fuhr, aus dem sie gerade gestiegen war, sodass er zum Anhalten gezwungen war.

      Die Frau umklammerte die Tasche auf ihrem Schoß, antwortete nicht und starrte dem Bus nach. Sie standen beide auf. Sie tat das Gleiche, da sie wegen des Paares sonst nichts sehen konnte, und schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab. Der Bus hielt und zwei Beamte stiegen ein.

      Völlig unvermittelt gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der sie alle drei zusammenzucken ließ. Der Mann legte den Arm um die Schultern der Frau, um sie zu beschützen.

      „Verdammt, die schießen!“, rief er.

      „Wer schießt?“, jammerte die Frau.

      War Abdul-Jabaar bewaffnet gewesen? Was war passiert?

      Ihr Hals schnürte sich zusammen und der Puls pochte in den Ohren.

      Ein Bus hielt in der Haltebucht vor ihr, sie sprang schnell hinein, obwohl es nicht der war, auf den sie gewartet hatte. Sie wollte nur weg. Der Fahrer war von dem Szenario hinter ihnen auf der Gegenfahrbahn gefesselt, beschloss aber, seinen Fahrplan einzuhalten. Kurz darauf ertönten die Sirenen erneut und weitere Krankenwagen rasten vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Versteinert starrte sie vor sich hin und fing an zu zittern.

      Kapitel 2

      Die Stimmung war die gleiche wie auf dem Weg zu einem Fußballspiel im Park.

      Anne Larsen beobachtete die kleine Gruppe Aarhuser, die mit nach Kopenhagen fahren sollte. Obwohl es kein Kriminalstoff war, hatte sie sich freiwillig als Reporterin gemeldet. Der Kameramann, den sie Flash nannten, war im TV2 Ostjütland-Auto mit der Kameraausrüstung gefahren und würde sich mit ihnen am Hauptbahnhof treffen, sodass sie gemeinsam zum Schlossplatz von Schloss Christiansborg fahren konnten, wo die Demonstration stattfinden sollte. Anne hatte darauf bestanden, mit den Demonstranten mit der Bahn zu fahren, damit sie unterwegs Interviews führen konnte. Nun gestand sie sich ein, dass der wahre Grund war, dass sie das Prickeln noch mal erleben wollte von damals, als sie als Teenager selbst aktive Demonstrantin und Hausbesetzerin in Nørrebro gewesen war. Es war viele Jahre her, seit sie zuletzt an einer Demonstration teilgenommen hatte, aber es dauerte nicht lange, bis sie wieder den Kick spürte und das Gefühl, die Ungerechtigkeit der Gesellschaft ändern zu können. Einen Unterschied zu machen und wenigstens ihre Meinungsfreiheit zu nutzen, auch wenn sie jetzt klüger war als damals. Es war doch super, dass man sich äußern konnte, aber was half es, wenn niemand zuhören wollte? Wenn die Politiker einen Beschluss gefasst hatten, war der beinahe unmöglich zu kippen. Doch es änderte nichts daran, dass die Dänen ihre Meinung zu Gehör bringen konnten und sie dachte, dass viele dieser jungen Teilnehmer heute sicher immer noch glaubten, dass es die Fahrt und den Kampf wert war. Diesen Glauben wollte sie ihnen nicht nehmen. Mit den Jahren würden sie es selbst merken und es war nur gut, dass es immer noch jemanden gab, der versuchte, Widerstand zu leisten.

      Wenn sie auf den bunten Haufen sah, hatte sie keinerlei Zweifel, dass die meisten politisch der sozialistischen Linken angehörten. Als Journalistin bei TV2 Ostjütland durfte sie ihre eigene politische Haltung nicht äußern. Sie sollte neutral auftreten, daher beteiligte sie nicht an der heftigen Debatte, die immer intensiver geworden war, je näher sie dem Kopenhagener Hauptbahnhof kamen. Wie eine Sportmannschaft, die sich hochschaukelte, um ein wichtiges Spiel zu gewinnen. Die Transparente waren zusammengerollt und ragten aus ein paar Rucksäcken heraus, die die Hälfte des Mittelgangs ausfüllten. Sie lächelte beim Anblick eines ausgefransten, alten Atomkraft?–Nein danke-Aufnähers auf einer der Taschen. Der gelbe Sticker mit der viel zu glücklichen roten Sonne in der Mitte war auch mal auf alle ihre Besitztümer geklebt gewesen – und hinten auf der Jeansjacke hatte sie einen riesigen Aufnäher gehabt. Es wunderte sie, dass es die Dinger noch gab.

      Sie saß bei dem älteren Teil der Teilnehmer, die nicht ganz so viel diskutierten. Sie lasen Zeitung oder schauten aus dem Fenster. Für sie war es nicht so aufregend, dass TV2 Ostjütland sie begleiten würde. Einige hatten sich sogar woanders hingesetzt, da sie es nicht an die große Glocke hängen wollten, dass sie auf dem Weg zu einer Demonstration waren. Die Jungen saßen weiter vorn. Anne beobachtete sie.

      „Es gibt echt bald keine Mitmenschlichkeit mehr“, sagte ein junger, schlaksiger Kerl mit Ponyfransen, die über dem Brillenrand unter einer grauen Mütze hervorguckten, die bei der Sommerhitze fehl am Platz wirkte.

      „Nein, diese verfickten Rassisten, die bald alles in diesem Scheißland bestimmen, sprechen ja überhaupt nicht für die gesamte dänische Bevölkerung!“, widersprach ein anderer, der seine staubigen Adidas-Schuhe auf den Sitz gegenüber geknallt hatte.

      Eines der Mädchen, das mit seinem Smartphone dasaß, fing an zu lachen. „Aber jetzt werden die sehen, was wir anderen meinen. Es haben sich schon fast tausend Teilnehmer bei Facebook angemeldet!“

      Die anderen lachten mit.

      Es war das große Interesse für den Facebook-Beitrag, der zur Demonstration gegen Asylverschärfung aufrief, das den Nachrichtenchef auf die Idee gebracht hatte, TV2 Ostjütland über das Ereignis berichten zu lassen, wo doch der Veranstalter eine Gruppierung aus Aarhus war.

      Anne wusste aus Erfahrung, dass die Anzahl der angemeldeten Teilnehmer nicht immer mit der tatsächlichen übereinstimmte. Einige hielten es für glorreich, auf der Liste zu stehen, aber wenn es darauf ankam, waren sie dann doch nicht willens, zu erscheinen und für ihre Haltungen einzustehen. Sie war gespannt, wie viele letztendlich mit Bannern und Sprechchören bei den Politikern vor der „Burg“ stehen würden.

      „Dann werden sie ihre Politik halt ändern müssen. Wenn wir nicht den Menschen helfen, die vor Krieg und Armut fliehen, wer dann?“

      Sie nickten alle in einhelligem Schweigen.

      „Mein Vater ist einer von denen. Den Rassisten. Er sagt, dass wir es uns nicht leisten können, sie hier im Land zu haben, dass sie zu viel Geld kosten. Gleichzeitig sagt er, dass er viel zu viel Steuern bezahlt, also wie passt das denn bitte zusammen?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und hob gleichzeitig die gezupften Augenbrauen, während das Kaugummi mehrmals mit der Zunge umgedreht wurde. Sie war die Jüngste und Anne dachte, dass sie sicher von zu Hause abgehauen war, wie sie selbst mit vierzehn.

      „Das sagen meine Alten auch. Die meinen, dass eine multikulturelle Gesellschaft nie funktionieren wird und nennen England, Frankreich und Schweden als Beispiele.“

      Der Sitznachbar schnaubte. „Ich habe auch gehört, dass einige die Terroristen als Grund für ihre rassistischen Haltungen benutzen. Dass die Krieger des Islamischen Staats als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen, um