Jesper Bugge Kold

Die Zeit vor dem Tod


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Standort aus kann Axel den Bottich sehen, aus dem die Suppe kommt, und er kann sehen, wie die anderen Gefangenen des Lagers sich gierig darauf stürzen. Ihr Verhalten hat etwas Rücksichtsloses und Beunruhigendes an sich. Sie sind wie ein Rudel Wölfe, das nach Monaten des Hungers gerade Beute gerissen hat. Nach und nach wird ihm klar, dass er vielleicht so enden wird wie sie.

      Dreiecke in verschiedenen Farben sind auf die Kleidung der Gefangenen genäht oder aufgemalt: rote, grüne, schwarze. Er weiß nicht, was sie bedeuten, kann sich aber immerhin denken, dass zwei gelbe, wovon eines verkehrt herum angebracht ist, die Juden kennzeichnen. Die Dänen tragen keine Symbole auf ihrer Kleidung.

      Ein hochgewachsener, knochiger Mann taucht neben Axel auf. Er ist schon lange im Lager, wie Axel annimmt, denn seine Haut ist faltig und fleckig.

      „Ihr seid neu hier.“ Der Mann spricht Dänisch, verpackt in einen sonderbaren Dialekt.

      Axel nickt.

      „Ich bin schon lange hier.“

      „Wie lange?“

      „Viel zu lange.“

      „Bist du Däne?“

      Der Mann zuckt mit den Achseln. „Ich weiß nicht mehr. Ich komme aus Niebüll.“

      „Warum bist du hier?“

      Der Mann zeigt auf seine Brust. Ein hellrotes Dreieck ziert den Fetzen, den er trägt. Ein kratzender, ungesund tief sitzender Husten erschüttert seinen ganzen Körper. „Sie finden, meine Arbeitskraft sei für die Ziegelei unentbehrlich, obwohl ich Kunstmaler bin.“

      Er tritt näher an Axel heran und richtet sich auf. „Hör mir zu. Du kannst von hier nicht entkommen, aber du darfst nicht aufgeben. Hier gibt es nur zwei Arten von Männern. Die, die aufgegeben haben, und die, die noch Hoffnung haben zu überleben. Die einen sind schon tot, die anderen haben wenigstens eine Chance.“

      Ein paar Lagerwachen versuchen, die ausgehungerten Männer auseinanderzutreiben. Wie im Rausch schlagen sie auf sie ein. Keiner der Gefangenen weicht zurück, sie lassen sie einfach schlagen. Dass der Hunger so quälend sein kann, dass man Peitschenhiebe hinnimmt, nur um noch einen Bissen mehr zu bekommen, kann Axel nicht begreifen. In welchem Zustand sie sich befinden müssen!

      Der hustende Mann blickt zu Boden. Er flüstert Axel zu: „Vergiss nicht, niemals Blickkontakt.“

      Die Lagerwachen schleifen ein paar Gefangene weg, die sich nach der Tortur nicht mehr auf den Beinen halten können.

      Axel sieht den Mann neben sich an. Er zuckt nur mit den Achseln, hat es schon so oft gesehen. „Denk dran, was ich dir gesagt habe.“ Der Mann dreht sich um und geht mit schweren, ernsten Schritten davon. Axel sieht, welche Kraftanstrengung jeder Schritt bedeutet.

      Das Ganze ist so sinnlos. Kann es etwas Schlimmeres geben als vollkommene Sinnlosigkeit?

      Axel erscheint die Zeit endlos. Die Tage laufen immer im gleichen Rhythmus ab. Zuerst der Morgenappell, zu dem alle Gefangenen auf dem großen Platz antreten. Danach werden sie zum Arbeiten gebracht. Einige in die riesige Ziegelei, wo sie Pressen, Zerkleinerungsanlagen und Brennöfen bedienen, einige zu den Walther Werken, die Pistolen und Gewehre herstellen, wieder andere zu weiteren Fabriken und Firmen, die die Arbeitssklaven mit Freude entgegennehmen. Die Polizisten werden nicht wie die anderen Gefangenen im Lager zum Arbeitsdienst eingeteilt. Den ganzen, langen Tag lungern sie in oder vor der Baracke herum und schlagen die Zeit tot, während um sie herum Gefangene unter den Stockschlägen der SS oder der harten körperlichen Arbeit sterben. Der Zustand nagt an Axel, denn er und seine Kollegen haben noch Kraft. Sie könnten die ausgemergelten Gefangenen ablösen.

      An diesem Morgen werden beim Appell drei Männer hingerichtet. Zwecks Abschreckung und Einschüchterung hängen sie immer noch am Galgen, als alle zum Abendappell zusammengetrieben werden. Niemand weiß mehr, warum sie hängen mussten, aber Axel meint sich zu erinnern, dass das, was sie getan haben, dort, wo er Polizist war, nicht einmal als Verbrechen betrachtet würde. Vielleicht werden die Lagerwachen nur befördert, wenn sie besonders brutal vorgehen, denkt er.

      Heute Abend dauert der Appell stundenlang. Viele fallen vor Erschöpfung um, während die Lagerwachen wieder und wieder zählen. Das Ergebnis will einfach nicht stimmen.

      „Noch einmal“, brüllt eine Stimme über den Platz.

      Es ist fast Mitternacht, als es endlich vollbracht ist und sich alle mühsam zu ihren Kojen schleppen.

      Axel klettert nach oben in seine Koje. Robert liegt schon da. Gestern Nacht haben sie auf der linken Seite geschlafen, also legen sie sich heute auf die rechte. Bevor sie versuchen einzuschlafen, erzählt Robert von seinen Kindern. Zwei Mädchen und einem Jungen. Es wird zu einer Art Ritual für sie. Robert muss von ihnen erzählen, um die Erinnerung an sie intakt zu halten, und Axel hört gerne zu, weil er ja selbst bald Vater sein wird. In seiner Fantasie werden Roberts Kinder zu seinen eigenen. Axel schließt die Augen mit einem Bild von sich und Kamma, wie sie zusammen mit ihren drei Kindern am Tisch sitzen und zu Abend essen. Die beiden Mädchen haben das blonde Haar zu Zöpfen geflochten und der Junge lauscht mit großen Ohren interessiert allem, was Axel ihm erzählt. In der Wohnung ist es warm und Weihnachten steht vor der Tür.

      Ruckartig wacht er auf. Sirenengeheul schneidet durch die Dunkelheit. Scharf und schrill wie Peitschenschläge zerteilt es die Luft. Verwirrt taumelt Axel aus seiner Koje und Panik breitet sich in der Baracke aus. Es ist kein Platz, um sich zu bewegen, alle schieben und drücken und drängen nach draußen. Über allem hängt das enervierende Kreischen der Sirenen. Es ist ihr erster Fliegeralarm.

      „Raus“, brüllt ein SS-Mann, der am Eingang steht.

      Die Tür ist schmal, sie zwängen sich hindurch. Durch den Druck von hinten stürzen sie ins Freie. Draußen rennen alle los und im selben Moment geht im ganzen Lager das Licht aus, damit die Bomber es nicht als Ziel ausmachen können.

      Erik packt Axel am Arm, sodass sie zusammen bleiben. Einige der anderen Polizisten machen es genauso und so laufen sie in einer langen Reihe und halten sich aneinander fest. Sie stolpern durch die rabenschwarze Nacht. Ein paar stürzen, andere trampeln rücksichtslos über sie hinweg, haben nichts anderes im Sinn, als sich in den Schutzräumen in Sicherheit zu bringen, getrieben vom Willen zu überleben.

      Auf der Treppe, die nach unten in den Keller führt, liegt ein Mann. Er hat das Gleichgewicht verloren und keine Chance, wieder hochzukommen. Axel kann ihm nicht helfen. Bleibt er stehen, ereilt ihn das gleiche Schicksal. Der Druck von hinten ist immens; er kann nur weiterstolpern und schnell wird der Körper des Mannes zu einer weiteren Stufe, ein blutiges Hindernis, das alle einfach überrennen.

      Hier unten scheinen die Geräusche weit entfernt. Jemand sagt, die Bomber hätten es auf Hamburg abgesehen und nicht auf das Lager. Axels Mund ist trocken, sein Atem geht pfeifend. Er darf nicht nachgeben, nicht bewusstlos werden, denn dann wird er nicht mehr aufwachen. Er will an Kamma denken, bis der Bombenhagel vorüber ist. Aber heute Nacht kann er es nicht. Sie soll nicht hier sein. Sie ist zu gut und zu rein für diesen Ort.

      Nach ein paar Stunden ebbt der Angriff ab. Als sie wieder nach draußen kommen, trifft sie das Licht eines neuen Tages.

      Axel atmet keuchend. Die entsetzliche Luft des Lagers wirkt plötzlich frisch und energiegeladen. Er weiß nicht, was schlimmer ist, der enge, überfüllte Luftschutzkeller oder das Risiko, von den Bomben in Stücke gerissen zu werden. Er weiß nur, dass sie ihn unter keinen Umständen dazu bringen werden, noch einmal nach unten in den Keller zu gehen.

      Sie gehen zurück zur Baracke. Axel schaut sich um. Das Lager wurde nicht getroffen, wie er mit gemischten Gefühlen feststellt. Wird es getroffen, ist das Risiko hoch, dass sie sterben, andererseits könnte es sein, dass die Gefangenen woandershin gebracht werden müssen. Und überall kann es nur besser sein als hier.

      „Wisst ihr, welcher Tag heute ist?“, fragt Erik.