Christoph Bausenwein

Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel


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in zwei Testspielen gegen das mit internationalen Stars wie Oleg Blochin und Oleg Protassow gespickte Team des Europapokalsiegers Dynamo Kiew. Die von dem berühmten russischen Nationaltrainer Valerij Lobanowski mit wissenschaftlicher Akribie getrimmten Ukrainer, die ein ballorientiertes Spiel auf allerhöchstem taktischen Niveau pflegten, hatten damals ihr Wintertrainingslager in der Sportschule Ruit aufgeschlagen, um so den allzu frostigen Temperaturen in der Heimat zu entgehen. Das erste Kräftemessen im Februar 1987 verloren die Oberliga-Spieler nur knapp mit 2:4. Das zweite Spiel im Januar 1988 – ausgetragen übrigens, wie ein Chronist überliefert, ausgerechnet bei »sibirischer Kälte« – endete sensationell mit 1:1.

      Die Deutschen staunten über die Disziplin der Staatsamateure von Dynamo. Wenn Trainer Lobanowski nach dem Essen seinen Wodka getrunken hatte und sich erhob, standen auch die Spieler stracks auf und folgten ihm – gleich, ob da noch was auf ihrem Teller lag. Umgekehrt waren die Spitzenspieler aus der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik erstaunt, dass eine unterklassige Mannschaft aus Deutschland einen taktisch derart fortgeschrittenen Fußball beherrschte, dass sie sogar die mit individuellen Könnern gespickte Passmaschine des Fußballingenieurs Lobanowski ins Stottern hatten bringen können.

      Neben Groß war damals auch Ralf Rangnick, der junge Spielertrainer des Verbandsligisten Viktoria Backnang, von dem ballsicher und oft nahezu perfekt zelebrierten Rasenschach der Ukrainer fasziniert. Sein erstes Aha-Erlebnis hatte er im Winter 1984/85, als die Dynamo-Stars, die als Gastgeschenk ganz standesgemäß Kaviar im Gepäck hatten, auf verschneitem Kunstrasen brillierten und sein Team mit 7:2 besiegten. Intensiv studierte Rangnick, wie die Lobanowski-Truppe mit kollektiven Verschiebeaktionen den Ballführenden des Gegners ständig unter Zeitdruck setzte und in der Vorwärtsbewegung mit einstudierter Überzahlbildung sowie nahezu reibungslos funktionierenden Passstafetten den Gegner scheinbar mühelos ausspielte.

      Als Rangnick, der bereits als 28-Jähriger kurzzeitig das Training der Stuttgarter Amateure übernommen hatte, später in den Trainerlehrstab des württembergischen Fußballverbands eintrat und dort auf Groß traf, war ein schlagkräftiges Duett der Modernisierer perfekt. In nächtelangen Videositzungen und Taktikdiskussionen perfektionierten die beiden ihr Wissen. Neben den Niederländern und den Lobanowski-Teams studierte man vor allem die Spiele des AC Milan, als dieser mit einer von Arrigo Sacchi ausgetüftelten Raumdeckungsvariante den europäischen Fußball dominierte. »Ich habe damals ein sündhaft teures Videogerät gekauft«, so Groß. »Das modernste auf dem Markt, für 3.000 Mark. Aber das ging schnell kaputt, weil wir die Bänder so oft vor- und zurückgespult haben, um alle Details in der Taktik von Sacchi und anderen Toptrainern zu erkennen.« Aus ihren Erkenntnissen entwickelten sie ein Lehrsystem, um die ballorientierte Raumdeckung den Jugend- und Amateurtrainern des Verbands näher zu bringen. So höhlte sich langsam der Stein, auch wenn in Rest-Fußballdeutschland zunächst kaum jemand etwas von diesen Vorgängen mitbekam.

      Im Jahr 1989 wurde Helmut Groß Jugendkoordinator des VfB Stuttgart und erarbeitete eine einheitliche Spielphilosophie mit Grundlagen wie Viererkette und, natürlich, ballorientierter Raumdeckung. Das alles erinnert sehr stark an die von Urs Siegenthaler in der Schweiz vorangetriebenen Reformen in der Trainerausbildung. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass man von beiden Fußballintellektuellen kaum etwas weiß. Wie Siegenthaler blieb auch dessen schwäbisches Pendant Groß ein stiller Brüter, den es nie vor die Kameras drängte. Und wie der Schweizer betonte auch der Schwabe, sehr zufrieden zu sein mit seiner beruflichen Unabhängkeit. Da muss es einen kaum mehr verwundern, dass der schwäbische Taktik-Großmeister in derselben Branche seine Brötchen verdiente wie der Schweizer Mastermind der Spielanalyse. Nämlich als Bauingenieur, Spezialgebiet Brückenbau.

      Rangnick war zwischenzeitlich freiwillig zwei Schritte zurückgegangen, um in der Provinz beim SC Korb mit allen Freiheiten seine Ideen weiterzuentwickeln. Schließlich kehrte er nach Stuttgart zurück, um als Trainer der A-Jugend Groß’ Konzept von einer einheitlichen Spielsystematik exemplarisch umzusetzen. Inzwischen waren die neuen Ideen jedoch nicht mehr nur auf den württembergischen Raum beschränkt. 1991 hatte der Norddeutsche Volker Finke seine 16 Jahre währende Tätigkeit beim SC Freiburg begonnen, während der er seine eher autodidaktisch entwickelten Vorstellungen vom ball- und raumorientierten Spiel immer klarer umsetzen sollte. Mit Viererkette, ballorientierter Raumdeckung und aggressivem Pressing wurde ab 1995 auch in der Hauptstadt von Rheinland-Pfalz gespielt, in Mainz. Der FSV 05 war der erste deutsche Zweitligist überhaupt, der so spielen ließ. Trainer Wolfgang Frank, natürlich ein Schwabe, hatte diesen Ansatz aus der Schweiz importiert, war aber auch von der baden-württembergischen Schule inspiriert. 1992/93 hatte er als Trainer des FC Winterthur auch den Badener Joachim Löw als Spieler unter seinen Fittichen. Und einer seiner Spieler in Mainz, der gebürtige Stuttgarter Jürgen Klopp, sollte später als Trainer die grundlegenden Konzepte aufnehmen und weiterentwickeln. Als Klopp 2001 Trainer in Mainz wurde, tauschte er sich in seiner ersten Zeit als Coach auch häufig mit Ralf Rangnick aus. Während Frank sein Team nach dem Vorbild Sacchi noch recht statisch hatte agieren lassen, wurden Klopps Mainzer immer dynamischer: mit aggressivem Pressing durch weit vorn attackierende Außenverteidiger und Mittelfeldspieler sowie mit extrem schnellem Umschalten nach der Balleroberung. In feinster Präzision und teilweise nahezu perfekter Weise sollte dann diesen Ansatz das Meisterteam von Borussia Dortmund in der Saison 2010/11 demonstrieren.

      Jürgen Klopps Nachfolger in Mainz, der vormalige FSV-05-Jugendtrainer Thomas Tuchel, ist der vorerst Letzte in der Reihe der schwäbischen Fußballintellektuellen. Tuchel war beim SSV Ulm unter Rangnick Spieler und erlernte danach das Trainerhandwerk in der Nachwuchsabteilung des VfB Stuttgart, wo er unter anderen dem späteren Topspieler Sami Khedira die Grundlagen des Spiels vermittelte. Er coachte zunächst die U14/U15 und war dann Co-Trainer bei den A-Junioren unter Hansi Kleitsch, der wiederum einst Co-Trainer von Helmut Groß in Kirchheim war. »Als Ralf Rangnick und Helmut Groß in Stuttgart Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre ein neues VfB-Spielsystem installiert haben, hatte es Vorbildcharakter für die ganze Region«, sagt Tuchel. »So entstand in Baden-Württemberg eine Keimzelle, aus der sich vieles entwickelt hat und von der ich in meiner Zeit als VfB-Juniorentrainer inspiriert und geprägt wurde.« Allerdings darf man in der Entwicklung nicht stehen bleiben. Zu Rangnicks Zeiten in Ulm war die Raumdeckung in Deutschland Neuland. »Mittlerweile«, so Tuchel, »hat man durch sie keinen Wettbewerbsvorteil mehr.«

      Keinen Vorteil aus den Anregungen, die er in und um Stuttgart herum hätte haben können, zog Joachim Löw. Denn entgegen dem Eindruck, der sich einem Außenstehenden aufdrängt, bestreitet er auf Nachfrage heftig, mit der beschriebenen Fußballschule, in deren Dunstkreis er sich jahrelang bewegt hat, irgendetwas zu tun zu haben. Er habe sich von Groß & Co. allein schon deswegen nicht inspirieren lassen können, weil er einen grundsätzlich anderen Stil vermittele: Er setze seinen Schwerpunkt nicht im Spiel gegen den Ball, sondern eben im Spiel mit dem Ball. Das muss man dann so stehen lassen. Dessen ungeachtet bleiben diese überregional nur wenig bekannten Vorgänge in der schwäbischen Provinz aber natürlich interessant und bemerkenswert. Denn sie zeigen, dass nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Südwesten Deutschlands in Sachen »Modernisierung des Fußballs« seinerzeit ein außerordentliches Klima der Innovationsfreudigkeit herrschte. Und zumindest davon hat sich wohl auch der Trainer-Novize Löw anstecken lassen.

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