Aristoteles

Aristoteles: Gesammelte Werke


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nimmt man auch in zweifelhaften Fällen seine Zuflucht zum Richter. Zum Richter gehen heißt aber soviel, als zur Gerechtigkeit gehen, da der Richter gleichsam die lebendige Gerechtigkeit sein soll. Auch sucht man in dem Richter einen Mann der Mitte, und Manche nennen sie Mittelsmänner127, als träfen sie, wenn sie die Mitte treffen, das Recht. So ist denn das Recht ein Mittleres, wie es ja auch der Richter ist. Der Richter stellt die Gleichheit her und macht es, wie wenn er eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich hätte, von deren größerem Teile er das Stück, um welches derselbe größer ist als die Hälfte, wegnähme und zu dem kleineren Teile hinzutäte. Wenn aber das Ganze in zwei Teile geteilt ist, so sagt man; »jeder hat sein Teil«, wenn sie gleiches bekommen haben. Das Gleiche aber ist die Mitte zwischen dem zu Großen und dem zu Kleinen nach der arithmetischen Proportion. Darum heißt es auch »dikaion« (gerecht), weil es »dicha« (zweiteilig) ist, wie wenn man sagte »dichaion« und statt »dikastes« (Richter) »dichastes« (Zweiteiler). Denn wenn man von zwei gleichen Großen die eine um ein Stück vermindert und die andere um dasselbe Stück vermehrt, so übertrifft diese jene um diese beiden Stücke. Würde die eine nur vermindert, ohne daß die andere vermehrt (1132b) würde, so würde diese jene nur um das einfache Stück übertreffen. So aber übertrifft sie die Mitte um das einfache Stück, und die Mitte wieder die verminderte Größe um dasselbe. Hieraus also mögen wir erkennen, was man dem, der zu viel hat, wegnehmen und dem, der zu wenig hat, hinzugeben muß. Dem, der zu wenig hat, muß man so viel hinzugeben, als die Mitte sein Teil übertrifft, und dem, der das Meiste hat, so viel wegnehmen, als die Mitte von seinem Teil übertroffen wird.

      Die Linien aa, bb, cc seien einander gleich. Von aa werde ae genommen und zu cc als cd hinzugesetzt, so daß die ganze Linie dcc die Linie ea um das Stück cd und ef übertrifft, und mithin die Linie bb um das Stück cd.

      Die Ausdrücke Verlust (Einbuße, Nachteil) einerseits und Gewinn (Zubuße, Vorteil) anderseits stammen aus dem freiwilligen Verkehr. Gewinnen bedeutet nämlich eigentlich mehr erhalten, als man hatte, und Verlieren bedeutet weniger erhalten, als man vorher besaß, wie bei Kauf und Verkauf und jedem solchen gesetzlich erlaubten Verkehr. Und wenn nicht mehr und nicht weniger vereinnahmt wird, sondern gleiches um gleiches, dann sagt man, man erhalte das Seinige und erleide weder Verlust noch mache man Gewinn.

      Achtes Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Einige Philosophen vertreten aber auch die Ansicht, die Wiedervergeltung sei das Recht schlechthin. So die Pythagoreer, die schlechthin das Recht als das bestimmten, was man von einem anderen wiedererleide. Allein die Wiedervergeltung stimmt mit der ausgleichenden Gerechtigkeit so wenig wie mit der austeilenden überein, obschon man in diesem Sinne das Recht des Rhadamanthys deuten möchte: »Leidest du was du getan, so ist richtiges Recht dir geworden.« Denn sie steht vielfach mit ihr in Widerspruch. Wenn z. B. eine obrigkeitliche Person jemanden geschlagen hat, so darf sie nicht wiedergeschlagen werden, und wenn jemand eine solche Person geschlagen hat, so muß er nicht blos geschlagen, sondern auch außerdem noch bestraft werden. Sodann trägt auch das Freiwillige und das Unfreiwillige der Handlung viel aus.

      In jedem auf Gegenseitigkeit beruhenden Verkehr freilich begreift die Wiedervergeltung das fragliche Recht in sich, jedoch eine Wiedervergeltung nach Maßgabe der Proportionalität, nicht nach Maßgabe der Gleichheit. Denn dadurch, daß nach Verhältnis vergolten wird, bleibt der Bürgerschaft ihr Zusammenhalt gewahrt. Entweder nämlich sucht man das Böse zu vergelten, und ohne diese Vergeltung hätte (1133a) man den Zustand der Knechtschaft, oder das Gute, und ohne das wäre keine Gegenleistung, auf der doch die Gemeinschaft beruht. Darum errichtet man auch das Heiligtum der Chariten auf öffentlichen Plätzen, damit man der Gegenleistung gedenke, die der Dankbarkeit eigen ist. Denn man muß dem, der uns gefällig gewesen ist, Gegendienste erweisen und auch selbst wieder zuerst ihm gefällig sein.

      Daher muß alles, was untereinander ausgetauscht wird, gewissermaßen gleich den Zahlen addierbar sein, und dazu ist nun das Geld bestimmt, das sozusagen zu einer Mitte wird. Denn das Geld mißt alles und demnach auch den Überschuß und den Mangel; es dient also z. B. zur Berechnung, wie viel Schuhe einem Hause oder einem gewissen Maße von Lebensmitteln gleich kommen. Es kommen also nach Maßgabe des Verhältnisses eines Baumeisters zu einem Schuster so und so viel Schuhe auf ein Haus oder auf ein gewisses Maß von Lebensmitteln. Ohne solche Berechnung kann kein Austausch und keine Gemeinschaft sein. Die Berechnung ließe sich aber nicht anwenden, wenn nicht die fraglichen Werte in gewissem Sinne gleich wären. So muß denn für alles ein Eines als Maß bestehen, wie vorhin bemerkt worden ist. Dieses Eine ist in Wahrheit das Bedürfnis, das alles zusammenhält. Denn wenn die Menschen nichts bedürften oder nicht die gleichen Bedürfnisse hätten, so würde entweder kein Austausch sein oder kein gegenseitiger. Nun ist aber kraft Übereinkunft das Geld gleichsam Stellvertreter des Bedürfnisses geworden, und darum trägt es den Namen Nomisma (Geld), weil es seinen Wert nicht von Natur hat, sondern durch den Nomos, das Gesetz, und es bei uns steht, es zu verändern und außer Umlauf zu setzen.

      Daß aber das Bedürfnis als eine verbindende Einheit die Menschen