Staatskunst. Wie soll man also durch bloße Kenntnisnahme (1181b) von ihnen zur Gesetzgebung befähigt werden können, oder wie soll man die besten herausfinden? Man sieht doch auch nicht, daß man blos aus Büchern ein Arzt wird. Gleichwohl suchen die medizinischen Schriftsteller nicht blos die Heilmittel anzugeben, sondern auch das Heilverfahren, das man beobachten und die Behandlung, die man den einzelnen Patienten mit Rücksicht auf ihre besondere Konstitution angedeihen lassen muß. Eine solche Anleitung mag zwar für die Erfahrenen ihren Nutzen haben, aber dem Laien kann sie nichts helfen. So werden wohl auch die Sammlungen der verschiedenen Gesetze und Verfassungen denjenigen gut zu statten kommen, die untersuchen296 und entscheiden können, was daran gut ist und was nicht, und was zusammenpaßt. Diejenigen aber, die ohne die erforderliche, nur durch Erfahrung mögliche Routine solche Sammlungen durchgehen, werden nicht richtig über sie zu urteilen vermögen, außer etwa zufällig. Nur ein besseres Verständnis auf diesem Gebiete läßt sich vielleicht auf diese Weise gewinnen.
Da also unsere Vorgänger die Theorie der Gesetzgebung unerforscht gelassen haben, so empfiehlt es sich, daß wir selbst die Untersuchung über sie und so denn über die Staatslehre überhaupt weiter verfolgen und so die Philosophie der menschlichen Dinge nach dem Maße unserer Kräfte zu Ende führen.
Zuerst wollen wir versuchen, zu bestimmen, was die Älteren hin und wieder Richtiges über unseren Gegenstand gelehrt haben, und sodann, aus der Zusammenstellung der verschiedenen Verfassungen zu entnehmen, was die Staaten und was die einzelnen Staatsformen erhält und was sie verdirbt, und aus welchen Ursachen einige Gemeinwesen sich in gutem, andere in schlechtem Zustande befinden. Denn haben wir diese Punkte untersucht, so können wir gewiß leichter darüber ins klare kommen, welches die beste Verfassung ist, und wie sie jedesmal geordnet sein und welche Gesetze und Bräuche sie haben müßte.
So wollen wir denn mit dieser weiteren Darlegung beginnen297.
Fußnoten
1.Kunst und Lehre werden hier genannt im Hinblicke auf die Sittenlehre und die Staatskunst, von der jene ein Teil ist; vergl. Einleitung S. V; Handlung und Entschluß oder Willenswahl, im Hinblicke auf die Dinge, in denen die Sittlichkeit subjektiv hervortritt.
2.Streben, εφίεσθαι, ist nicht einfach zum Ziele haben. Von jeder Tätigkeit, auch der des Unbeseelten und Empfindungslosen, gilt, daß sie ein Ziel hat. Streben dagegen, im eigentlichen Sinne, wird dem sinnlich und geistig Beseelten, Tieren und Menschen, zugeschrieben und setzt Erkenntnis des Zieles voraus.
3.Diese Bezeichnung oder Definition des Guten ist von Eudoxus, vgl. X, 2.
4.In der Baukunst ist der Bau besser als das Bauen, weil dieses nur um jenes willen geschieht. Das höhere Ziel ist immer auch das Bessere.
5.In den Tätigkeiten ist ein Unterschied der Güte, je nachdem sie um eines von ihnen verschiedenen Ergebnisses willen verrichtet werden, wie der Krieg um des Sieges willen geführt wird, oder um ihrer selbst willen, wie die Betätigung der Kunst, gut und glücklich zu leben. Insofern aber eine Tätigkeit einer anderen gegenüber eine leitende und maßgebende oder, wie Aristoteles sagt, architektonische Stellung einnimmt, macht es keinen Unterschied, ob sie noch einen weiteren, äußeren Zweck hat oder nicht. Insofern die Kriegskunst den von Aristoteles genannten Künsten und Fertigkeiten Maß und Regel gibt, wie der Zweck dem Mittel, ist dieselbe für sie ebenso architektonisch und ihnen darum ebenso vorzuziehen, wie es die Kunst, gut und glücklich zu leben, im Vergleich zu jeder anderen Kunst und Tätigkeit ist.
6.Statt Vermögen könnte man auch sagen Kunst. Das griechische δύναμις ist das Substantiv von δύνασθαι, können. Von Können ist ja auch Kunst abgeleitet.
7.Ich verstehe unter Μέθοδος, das ich mit Disziplin übersetze, so wie ich es im ersten Satze des Kapitels mit Lehre übersetzt habe, nicht die hier von Aristoteles gelieferte wissenschaftliche Entwickelung, schon darum nicht, weil es sich nach meinem Gefühle unbescheiden ausnehmen würde, wenn Aristoteles sagte, er wolle mit seiner Arbeit Völkern und Staaten zu ihrem wahren Wohle verhelfen.
8.Die Produkte der bildenden Künste sind an Feinheit je nach ihrem Stoffe verschieden. Aus Thon macht man keine so feinen Bildwerke wie aus Marmor oder Elfenbein.
9.Einer der Grundpfeiler der aristotelischen Sitten- und Rechtslehre ist der Satz, daß ihre obersten Grundsätze nicht positiv und veränderlich, sondern in der Natur der Dinge begründet und unveränderlich sind. Vergleiche unten III, 6.
10.Aristoteles sagt wörtlich: nach einem Gute begehrt, ορέγεται. Die vier Substantiva im ersten Satze der Ethik sind hier auf zwei zurückgeführt: γνω̃σις und προαίρεσις; sie zielen auf die zwei Grundkräfte der Seele, Verstand und Wille. Auch der Verstand hat ein Gut, die Erkenntnis.
11.Glückseligkeit, griechisch: ευδαιμονία. Uns fehlt scheints im Deutschen das rechte Wort, um das hier Gemeinte so auszudrücken, wie es das griechische Wort vielleicht tut. Glückseligkeit klingt zu voll oder zu transszendental, Glück ist zu wenig oder zu unbestimmt. Otto Willmann, Aristoteles, S. 79 ff. gibt es wieder mit »Beglückung, Lebensglück«. S. 84 erinnert er daran, daß das Wort ευδαίμων etymologisch jemanden bezeichnet, der einen guten Dämon, Schutzgeist hat, in guter Hut beschlossen ist. Die ursprüngliche Bedeutung tritt aber bei Aristoteles zurück, der es abwechselnd und synonym mit μακάριος und αυτάρκης gebraucht.
12.ευ̃ ζη̃ν, gut leben, ist auch in unserer Sprache zweideutig, wo es nicht blos tugendhaft sondern auch vergnüglich leben bedeutet; ευ̃ πράττειν, das wir faute de mieux mit sich gut gehaben wiedergeben, bedeutet sowohl gut handeln wie sich wohl befinden. Wir werden weiter unten, I, 8, letzter Absatz, sehen, wie Aristoteles die je an erster Stelle angegebene Bedeutung der beiden Ausdrücke benützt, um seine Lehre, daß die Glückseligkeit in Tätigkeit besteht, zu bekräftigen.
13.Vgl. Plato's »Staat« VI. Buch p. 510B.
14.Mit dem Bekannten und auch mit dem uns Bekannten muß man in jeder Untersuchung anfangen, um das noch nicht Bekannte zu finden. Dieses Bekannte ist aber zuweilen auch schlechthin oder an sich bekannter, wie in der Mathematik, wo man von den höchsten und zugleich einfachsten Prinzipien ausgeht, um daraus die Folgesätze abzuleiten; zuweilen aber ist es nur für uns bekannter, wie in den Naturwissenschaften, wo man von den mannigfach zusammengesetzten Erscheinungen ausgeht, um aus ihnen deren einfache Gründe abzuleiten, die an sich bekannter sind, insofern es nämlich dem natürlichen Gange der Erkenntnis entspricht, zuerst den Grund zu erkennen und dann die Folge. Aristoteles erklärt nun aus Anlaß der ersten Frage, die er stellt, der nach dem höchstem Gute, daß er in Beantwortung dieser sowie der folgenden Fragen der Ethik und Politik von dem uns Bekannten ausgehen will, von dem »daß«, um dann auch das »darum« zu bestimmen. Er will also von der Voraussetzung, daß das und das, z. B. die Sinnlichkeit bezähmen,