Paul Keller

Dorfjunge


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sagte ich noch. Aber auch das nutzte nichts.

      Da liessen wir’s dann fliegen, und ich rannte hinterher und fand es nicht mehr und setzte mich ins junge Frühlingsgras und weinte ein wenig um den entschwundenen Freund. Der aber war im Freien, im Grünen.

      Zwei Zusammenstösse.

      Zweimal aber hat mich mein Grossvater auch geschlagen. Es war in jedem Falle zwar nur um eine Ohrfeige zu tun, aber jede dieser Ohrfeigen war von geradezu elementarer Gewalt. In beiden Fällen handelte es sich um verbotenes Lachen.

      Wenn man einem Menschen verbietet, zu lachen, so lacht er. Sag bloss einem mit richtigem Ernst: „Dass du jetzt ja nicht lachst,“ dann wird er lachen, auch ohne, dass etwas zu belachen da ist. Ich war einmal bei einem Begräbnis, das an sich traurig genug war. Der Prediger wurde von einer aufdringlichen Wespe bedrängt, die es auf seine Nase abgesehen hatte. Der Geistliche schlug mit der Hand, fuchelte mit seinem Taschentuche und machte dadurch das Tier immer erboster. So ging Angriff und Abwehr eine Weile, bis plötzlich einer der Begräbnisteilnehmer ausplatzte. Und nun lachte die ganze Gesellschaft, die um das Grab stand.

      Ist es etwas Lächerliches, wenn sich ein Mensch gegen ein zudringliches Insekt wehrt? Es wurde nur gelacht, weil das Lachen durch die Sachlage verboten war. Diese allgemeinen Bemerkungen sollen dazu dienen, meine Vergehen gegen meinen Grossvater in einem milderen Lichte erscheinen zu lassen.

      Der erste Fall ereignete sich folgendermassen: Der Grossvater hatte auf unserer Aue einen Baum ausgerodet. Aber da steckte in der Erde noch eine Wurzel, diese wollte er heraushaben. Ich sah zu. Er zog also aus Leibeskräften an der Wurzel, so dass sein Gesicht blaurot wurde und die Adern an Schläfen und Hals dick anschwollen. Ich dachte gerade mit einem unangenehm angenehmen Gruseln: Jetzt wird ihn wahrscheinlich der Schlag rühren, da geschah etwas ganz anderes. Die Wurzel riss in der Erde ab, und der Grossvater schlug nach hinten einen geradezu erstaunlichen Kobolz. Ich schrie vor Vergnügen und klatschte Beifall. Da sprang der Grossvater blitzschnell auf; ich geriet plötzlich aus der vertikalen Stellung in die horizontale, schlichter ausgedrückt, ich flog auf den Rücken, und da lag ich denn in einem gewissen Dämmerzustande neben der entwurzelten Wurzel. — — —

      Im zweiten Falle war meine Cousine Bertha schuld. Bertha besass trotz ihrer elf Jahre noch keinen richtigen Lebensernst, auch hatte sie keine kritischen Fähigkeiten, wie sie literarischen Kindern von heute eigen sind. Bertha war ein kindisches Ding, das sich einfach seines Lebens freute, und sie lachte viel, am öftesten aber über mich.

      Einmal beim Mittagessen fragte ich sie leise, ob sie wohl wisse, warum die Haare, die der Hase an seiner Schnauze habe, „Spürhaare“ hiessen. Die Worte „Hase“ und „Schnauze“ hatten sie schon mächtig zum Lachen gereizt, bei „Spürhaare“ platzte sie aus. Da schlug der Grossvater der an meiner anderen Seite sass, mit zwei harten Bauernfingern auf die Tischkante und wiederholte das schon oft gegebene Verbot: „Beim Essen wird nicht gelacht!“ Das Essen hielt der Grossvater für eine ernste und wichtige Sache, weil da die Quelle der Arbeitskraft ist. Ich merkte, wie es in meiner Cousine wegen der Spürhaare rumorte, und da verführte mich ein böser Kobold, ihr die Lösung zuzutuscheln: „Wenn man ihn daran zieht, da spürt er’s!“ Ich weiss bloss noch, dass Bertha die Suppe über den Tisch prustete, und dann lag ich in einem entfernten Stubenwinkel. Unser Hund kam, betrachtete nachdenklichen Angesichts diesen Fall, beschnupperte meine Herzgrube und mein Gesicht, stellte fest, dass ich noch am Leben sei und meldete schwanzwedelnd diesen Befund bei Tische. Für diese ärztliche Bemühung erhielt er als Honorar einen Knochen.

      Das waren die beiden Fälle, wo es in des Wortes wahrster Bedeutung zwischen dem Grossvater und mir zu Zusammenstössen kam. Sie waren für mich unerwartet, heftig und schmerzhaft, haben aber unser gutes Einvernehmen nur ganz vorübergehend gestört. Nach dem ersten Falle war ich auf den Grossvater drei Tage lang „böse“, beim zweiten nur zwei.

      Das Augenmittel.

      Als Johann Keller etwas über 50 Jahre alt war, glaubte er, jetzt müsse er wohl eine Brille haben. Zu uns kamen öfters Handelsfrauen, die führten drei Artikel: Erstens Jerusalemer Balsam. Ich glaube der Jerusalemer Balsam wurde damals in Neisse gemacht. Er half für „böse“ Finger und so. Den Balsam kauften wir auf Vorrat. Zweitens Patent-Seife. Davon gingen die Sommersprossen und alle Hautpusteln weg. Die Seife kauften wir nicht, dieweil wir nichts derartiges Aussätziges hatten. Drittens Brillen. Es hiess, sie seien aus Rathenow, der grössten Brillenstadt der Welt. Das Gestell war aus Draht, die Linsen waren aus Glas. Jedweder konnte alles ausprobieren und aussuchen, was für ihn „passte“. Meine Grossmutter, die äusserst sparsam war, kaufte sich eine solche Brille. Johann aber sagte zur Handelsfrau: „Glauben Sie, ich wolle mir meine hübschen Augen verderben?“ Die Händlerin lachte leise über die „hübschen Augen“, die Grossmutter lachte laut. Das war das einzige Mal, da ich sie lachen hörte. Aber Johann fuhr fort: „Ich geh zum Doktor nach Schweidnitz und lasse meine Augen nachsehen.“ Die Grossmutter hielt das für sündhaften Hochmut.

      Der Doktor in Schweidnitz war ein ziemlich grober Mann. Er sah sich den Bauern an und sagte: „Brille? Quatsch! Kaufen Sie sich lieber eine Schnupftabakdose. Da brauchen Sie keine Brille!“ So wurde anno l868 ordiniert.

      Der Grossvater kaufte sich eine Dose und schnupfte zum grossen Ärger seiner Christiane ganz mächtig. Und er blieb tatsächlich scharfsichtig bis zu seinem 72. Lebensjahre. Dann erst musste eine Brille heran. Der Grossvater pries den Schweidnitzer Doktor als den grössten Augenarzt aller Zeiten bis an sein Ende.

      Der Nasenheiber.

      Mein Grossvater hatte eine ziemlich grosse Nase. Aber da war im Dorfe ein Mann, der hatte ein Riechorgan, mit dem unter den lebenden Wesen nur die Nilpferde und die Elefanten hätten konkurrieren können. Das war der „Nasenheiber“. Er hiess so zur Unterscheidung von den vielen anderen „Heiber“, des „Fluch-Heiber“, des „Sauf-Heiber“, des „Hunde-Heiber“, des „Eingefallenen Schweinstall-Heiber“ und der anderen Heiber. Der Nasenheiber hatte eine Nase, die, so man sie in weiterem Umkreise erschaut hätte, ein Anstoss für das ganze gebildete Europa gewesen wäre.

      Ausgerechnet dieses zinnengekrönte Monstrum musste es sich einfallen lassen, meinen Grossvater im Wirtshaus wegen seiner grossen, aber immerhin doch noch normalen Nase anzuulken.

      Johann Keller lächelte milde.

      „Heiber,“ sagte er, „es ist wahr, ich habe eine grosse Nase. Was meine Frau ist, die Christiane, mit der ich nun schon acht Kinder habe und also leidlich bekannt bin, die guckt mich manchmal verstohlen an und dann sagt sie sich wahrscheinlich im Innern: „Ich hätt’ mir damals auch einen hübscheren Kerl aussuchen können.“ — Aber Heiber, wenn ich mal sterbe, passe ich doch in den Sarg. Aber du! Wenn du vor mir stirbst, da lasse ich dir auf den Sargdeckel ein Häusel bauen, dass du deine Gurke reinstecken kannst. Das Häusel lasse ich zu Ehren des Inhalts rot anstreichen und an die Spitze mache ich ’ne wasserhelle Laterne, die wie ein Tropfen aussieht. Heiber, ich sag dir, wenn du am jüngsten Tage aus diesem Sarge rauskriechst, da lachen die Guten wie die Bösen.“

      Die Gerste und der Wind.

      Diese kleine Geschichte habe ich selber erst jetzt erfahren. Ein alter Bauer, der den Grossvater noch gut gekannt hat, hat sie mir in diesem Frühjahr erzählt. Er sagte: „Damals hat jeder im ganzen Umkreise, der den Johann Keller und seine Christiane kannte, über die Geschichte gelacht.“ Ich war damals schon aus der Heimat fort. Also es war Erntezeit. Die Felder waren fast leer. Nur Johann Keller hatte seine Gerste noch draussen. Der war immer etwas „hinter der Angst“. Die Grossmutter hatte schon tagelang geschimpft, er solle doch endlich mal die Gerste einfahren, aber er hatte immer gesagt: „Es ist noch lange Zeit.“ Da macht er sich endlich auf und ladet ein Riesenfuder auf. Gerade will er dem Dorfe zu, da kommt ein heftiger Wirbelsturm und wirft das Fuder um. Gleichzeitig setzt ein schrecklicher Wolkenbruch mit heftigem Hagelwetter ein. Johann Kellers Gerste wird in den Sumpf gedroschen.

      Abends hockt die Grossmutter auf der Ofenbank und weint. Johann sitzt am Tische und lässt