>
Inhalt
Der letzte Novembertag begann für Paul und Anja genauso trübe wie das Wetter draußen. Es nieselte pausenlos, als würde der Himmel immerfort weinen.
Auch hier drinnen gab es so manche Träne. Die Kinder waren krank. Sie hatten sich einen hässlichen Virus eingefangen, der sie husten und schniefen ließ, sodass sie nicht in die Schule gehen konnten. Papa und Mama mussten allerdings trotzdem arbeiten.
„Ihr wollt doch schöne Geschenke zu Weihnachten bekommen“, hatte Papa erklärt. „Die können wir uns aber nicht leisten, wenn wir zu Hause bleiben.“
„Dann bekommen wir nämlich kein Geld“, ergänzte Mama. „Unsere Urlaubstage sind aufgebraucht.“
„Ich denke, der Weihnachtsmann besorgt die Geschenke!?“, wunderte sich Paul.
„Es wird Zeit, dass du aufhörst, an solchen Unsinn zu glauben“, erwiderte Papa und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Bis nachher, Großer!“
Als Mama und Papa fort waren, begann Paul zu weinen. Er war erst vor ein paar Monaten in die Schule gekommen und hatte bis jetzt noch fest an den Weihnachtsmann geglaubt. Anja, die große Schwester, fühlte sich zwar oft von ihrem kleinen Bruder genervt, doch jetzt tat er ihr leid.
„Erwachsene wissen auch nicht alles“, tröstete sie ihn. „Wir können ja einen Brief an den Weihnachtsmann schreiben. Vielleicht antwortet er uns, dann weißt du, dass es ihn doch gibt.“
„Und wenn nicht?“, fragte Paul.
„Wir werden sehen“, meinte Anja.
Paul diktierte:
„Lieber Weihnachtsmann,
ich schreibe dir heute in einer dringenden Angelegenheit. Du kennst mich schon, weil ich jedes Jahr einen Wunschzettel für dich gemalt habe. Aber falls du dich nicht mehr an mich erinnern solltest, gebe ich dir einen kleinen Tipp. Mein Name ist Paul, ich bin sechs Jahre alt und kann noch nicht so gut schreiben, darum schreibt meine große Schwester für mich, die heißt Anja und ist schon zehn Jahre. Wir wohnen in der Spielmannstraße 3. Und jetzt sind wir krank und allein zu Hause. Papa hat gesagt, dass es dich nicht gibt. Stimmt das?
Viele Grüße
Dein Paul
P.S. Bitte antworte mir, damit ich Papa den Brief zeigen kann.“
„Und jetzt legen wir ihn auf das Fensterbrett“, sagte Anja, als sie den Umschlag zugeklebt hatte.
„Aber da wird er doch nass“, entgegnete Paul.
„Das macht nichts. Der Weihnachtsmann weiß sicher ganz genau, was wir ihm geschrieben haben. Du weißt doch, er beobachtet uns.“
Am Abend war der Brief vom Fensterbrett verschwunden.
„Das Frühstück steht in der Küche und das Mittagessen im Kühlschrank“, sagte Mama, bevor sie sich am nächsten Morgen verabschiedete. „Wärmt es euch in der Mikrowelle auf! Und ruft sofort an, wenn es Probleme gibt!“
Es war der 1. Dezember. Kurze Zeit später waren die beiden Kinder sich selbst überlassen.
Paul zog sich einen Bademantel und dicke Socken an. Dann setzte er sich ans Fenster und hielt Ausschau nach einem Weihnachtsboten.
Anja überlegte, ob sie einfach selbst einen Brief an Paul schreiben und so tun sollte, als käme er vom Weihnachtsmann persönlich. Aber noch fühlte sie sich zu schwach und blieb lieber im Bett liegen. Hunger hatten beide Kinder nicht.
Plötzlich bemerkte Paul einen grauen Fleck am Himmel, der war so dunkel, dass er sich noch von den Regenwolken abhob. Er wurde größer und formte sich schließlich zu einer menschenähnlichen Gestalt mit Flügeln. Die hielt genau auf das Haus Nummer drei in der Spielmannstraße zu.
„Anja, komm schnell! Ich glaube, der Weihnachtsbote ist da.“ Paul machte sich am Fenstergriff zu schaffen.
Anja sprang aus dem Bett, stürzte zu ihrem Bruder und blickte hinaus. Sie konnte nicht fassen, was sie dort sah. Eine fledermausähnliche Erscheinung näherte sich dem Haus in rasender Geschwindigkeit.
„Fenster zu! Das ist ein Vampir“, schrie Anja.
Gerade noch rechtzeitig, denn im selben Moment, als Paul das Fenster verriegelte, prallte das geflügelte Wesen auch schon gegen die Scheibe. Dann fiel es mit einem lauten Schrei herunter.
„War das wirklich ein Vampir?“, fragte Paul. „Seit wann fliegen Vampire mitten am Tag durch die Gegend?“
„Keine